Donnerstag, 28. Januar 2010

Broder, Hass und Taliban

Das schöne an Glossen ist, dass sie einen vom Zwang der klaren Argumentation befreien, und man sich nicht zu sehr auf bestimmte Details seiner Position festlegen muß. Und dazu gibt es aus zwei Gründen Anlaß. Einmal, wenn die Argumente der Gegenseite ohnehin so absurd sind, dass es sich nicht lohnt, sich ernsthaft auf sie einzulassen. Und zum anderen, wenn die eigenen Argumente bei näherer Betrachtung dann doch nicht so gut sind, wie man das vieleicht gerne hätte, und es daher besser ist, sie nicht zu deutlich heraus zu stellen. Und wo wir schon mal beim Thema sind, könnten wir ja mal einen Blick auf die publizistischen Ergüsse des Henryk Broder werfen, zum Beispiel auf seinen offenen Brief an Guido Westerwelle zu der Idee der "Aussteigerprämie" für Taliban in Afghanistan. Man muss wohl annehmen, daß Herr Broder diese Idee nicht gutheißt, so sehr wie er sich lustig macht, nicht über diese Idee selber, sondern indirekt, über die Idee einer Prävention. Aber man könnte mal versuchen, zu argumentieren. Machen wir uns also mal ein zugegeben sehr einfaches Bild von Afghanistan:
Nehmen wir an, es gebe eine afghanische "Bevölkerung", die nicht den kämpfenden Taliban zuzurechnen ist. Dann gebe es die Gruppe der "Talibankämpfer". Und die Menge der "toten Talibankämpfer". Zwischen diesen Gruppen möge es Übergänge geben. So z.B. einen Übergang von der "Bevölkerung" zu den "Talibankämpfern" durch Anschluß, mit einer bestimmten Rate rA in Personen/Monat. Dann möge es den Übergang in umgekehrter Richtung geben, von den "Talibankämpfern" zur "Bevölkerung", eben durch Aussteiger, mit einer Rate rB. Dann gebe es noch den Übergang von "Talibankämpfern" zu "toten Talibankämpfern", im wesentlichen durch das Militär, mit einer Rate rC. Dieses einfache Konzept (aber einfach scheint ja auch die Welt des Herrn Broder zu sein) sei hier kurz illustriert:

Das politische Ziel ist es nun, die "Talibankämpfer" möglichst zu schwächen, also die Gruppe der "Talibankämpfer" zu minimieren. Zum Erreichen dieses Ziels könnte man Einfluß auf alle drei Raten nehmen. Also rA durch Präventionsmaßnahmen möglichst klein halten. Oder rC durch mehr Angriffe möglicht groß machen. Oder eben durch Anreize zum Ausstieg rB möglichst groß machen. Die Entscheidung, welche dieser Maßnahmen am besten geeignet ist, die Menge "Talibankämpfer" möglichst klein zu machen, ist selbst in dieser simplen Betrachtung nicht einfach zu treffen. Zum einen benötigt man für eine solche Beurteilung Informationen über die Größen der verschiedenen Gruppen, sowie über die momentanen Raten für die verschiedenen Übergänge. Dann benötigt man zumindest Schätzungen, wie man die Raten durch Maßnahmen verändern kann, etwa Schätzungen über den Anteil potentieller Aussteiger. Hier gehören dann auch Kostenbetrachtungen hinzu. Dann sind wohl auch die Raten nicht unabhängig von einander. So wurde ich naiv annehmen, dass wenn rC steigt, also es zu vielen toten "Talibankämpfern" kommt, rA sinkt und rB steigt, weil die "Talibankämpfer" unattraktiver werden. Oder wenn es zu vielen "Kollateralschäden" durch Militäraktionen zur Steigerung von rC kommt, könnte rA ansteigen, weil die Empörung der Bevölkerung wächst.
Also alles nicht so einfach zu beurteilen, nicht einmal in einer einfachen Modellwelt, und ich möchte hier natürlich nicht über die beste Strategie entscheiden. Es geht ja um etwas anderes. Denn Herr Broder nun scheint den Plan, rB zu steigern, grundsätzlich abzulehnen. In diesem Fall bliebe noch, rA zu senken, um die "Talibankämpfer" zu dezimieren. Aber dies alleine kann natürlich kaum ausreichend sein, in absehbarer Zeit Erfolge zu erzielen. Denn alleine mit dieser Methode würde rC nur durch die natürliche Sterblichkeit gegeben sein, und wenn rA überhaupt klein genug gemacht werden kann, um zu einer Nettoabnahme der "Talibankämpfer" zu führen, so würde dies Jahrzehnte in Anspruch nehmen, bevor es zu nennenswerten Resultaten käme. Also bleibt für Herrn Broder wohl nur, auch rC möglichst groß zu machen.
Daher muss man annehmen, dass Herr Broder das Töten der "Talibankämpfer" für den einzigen akzeptablen Weg zum Erfolg hält.
Warum nun wehrt sich Herr Broder so gegen die Einflussnahme auf rB? Das scheint eine prinzipielle Frage für ihn zu sein. Und sicherlich ist es ein schmutziges Geschäft, Gegner durch Zuwendungen und Zugeständnisse unschädlich zu machen. Aber sollte man deshalb diesen Weg ausschließen? Zu anderen Zeiten hat man da, allen Ekels zum Trotz, pragmatischer gedacht. So hat man nicht allzu sehr belastete Nazis in die deutsche Nachkriegsgesellschaft integriert, denn ohne sie ging es nicht. Und mußte man nicht auch ehemaligen Kommunisten in Osteuropa eine Change zur Teilhabe an den postkommunistischen Gesellschaften bieten, um des gesellschaftlichen Friedens willen? Die Frage ist also hier, was mehr zählt, das ethische Prinzip oder der praktische Erfolg. Und Herr Broder scheint sich da eindeutig auf die Seite des Prinzips zu schlagen; etwas, das er mit den meisten Fundamentalisten und Überzeugungstätern gemeinsam hat. Und wenn er zum Ergebnis kommt, dass man "Talibankämpfer" töten müsse, nicht des praktischen Erfolgs wegen, sondern um des Prinzips willen - könnte das vieleicht der Grund sein, weshalb andere Herrn Broder in eine Reihe mit "Hasspredigern" der islamistischen Seite stellen?

Mittwoch, 27. Januar 2010

Immer noch aggressiv bis militant!

Die von den aggressiven Gottlosen ausgehende Gefahr ist noch immer nicht gebannt, wieder muss gewarnt werden! Etwa von den Evangelen, die sich vor dem "selbstbewussten bis militanten Atheismus" fürchten. Oder, noch viel besorgter, die Katholen. Die wissen, dass dieser neue Atheismus "wenig mit dem klassischen abendländischen Atheismus zu tun hat". Ja, der neue "ist global vernetzt, aggressiv, quasi-missionarisch, und er ist keine philosophische Veranstaltung.". Und dabei "geht es ihm um eine politische Umgestaltung der Weltgesellschaft“. Ja, da kann man schon mal weiche Knie bekommen. Und es wird noch viel schlimmer, denn diese Neoatheisten sind alles Meuchler und Kindermörder, denn der "KORSO, fordere weltanschaulich neutrale Bildungseinrichtungen und eine Autonomie an Lebensende und -anfang, also aktive Sterbehilfe und Abtreibung bis zur Geburt." Ach ja, und: "Beide Referenten befürchteten, dass in der Diskussion zwischen Christen und Neoatheisten 'polemisch aufgerüstet und intellektuell abgerüstet wird'." Ach was. Da vertraue ich dem Urteil der Referenten aus irgendeinem Grund dann doch mal.
Also gut, wo soll man da anfangen? Mit der Abtreibung bis zur Geburt? Zweifellos ein Ding, immerhin gehört Kindsmord ja zur religiösen Kernkompetenz. Denn das Alte Testament lehrt uns: "Es war Mitternacht, als der Herr alle Erstgeborenen in Ägypten erschlug, vom Erstgeborenen des Pharao, der auf dem Thron saß, bis zum Erstgeborenen des Gefangenen im Kerker, und jede Erstgeburt beim Vieh." (2. Mose 12, 29). Oder auch: "Samaria verfällt seiner Strafe, weil es sich empört hat gegen seinen Gott. Seine Bewohner fallen unter dem Schwert, ihre Kinder werden zerschmettert, die schwangeren Frauen werden aufgeschlitzt." (Hosea 14, 1). Und dann gibt es da noch diese häßlichen Geschichten von Konquistadoren, die Indiokinder getauft und gleich darauf erschlagen haben, nur um ihnen einen Platz im Himmel zu sichern. Aber wärmen wir nicht immer wieder diese alten Geschichten auf. Immerhin haben es die christlichen Kirchen ja trotz allen atheistischen Beifallgeschreis ja doch noch über solche Praktiken hinweg geschafft.
Aber da ist dann noch das Aggressive, quasi-Missionarische. Es ist ja schon seltsam, daß ausgerechnet von den Kirchen Missionierung als Vorwurf verstanden wird. Einmal ganz kurz googlen gibt gleich eine Fülle von kirchlichen Missionen, von denen nur mal aus Spaß ein paar wenige Beispiele aufgeführt sein sollen:
Onlinemission
Judenmission
Missionschronik
evangelisches Missionswerk
katholisches Missionswerk
Und dann ist da noch die "politische Umgestaltung der Weltgesellschaft". Wenn mit diesem irgendwie dann doch verschwörungstheoretisch aufgeladenen Satz gemeint ist, dass Atheisten sich in gesellschaftliche Entwicklungen einmischen wollen, dann bleibt als Antwort nur: ja. Warum empört es die Kirchenvertreter nur so, wenn Atheisten ihre Meinung vertreten ("aggressiv", "missionarisch") und Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen nehmen wollen ("Umgestaltung der Weltgesellschaft")? Erwarten diese Menschen allen Ernstes, dass Atheisten zu hause sitzen und die Missionierungen und politischen Einflußnahmen der Religionen ignorieren? Weil Religion ja letztlich eben doch Privatsache ist?
Dann mal schnell noch ein paar wenige ausgewählte google-Ergebnisse für die Privatheit und fehlende politische Einflußnahme des Christentums:
Bischöfin macht Politik
Kirche "mischt sich ein"
Kandidatin von Gottes Gnaden
Arbeiten für die Kirchen
Im säkularen Staat
Nächstenliebe in Uganda
Gott zielt mit
Wie unverschämt, dass sich in solche Diskussionen auch noch nicht religiöse Menschen einmischen wollen! Aber keine Sorge, langfristig wird ja alles gut:
"Der Zorn Gottes wird vom Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten." (Röm. 1, 18) Ist ja nicht meine Schuld, daß Gott sich damit Jahrtausende Zeit läßt...

Sonntag, 24. Januar 2010

Das Recht, unangreifbar zu sein

Was in diesem Jahr schon alles passiert ist in Punkto Religions- und Meinungsfreiheit!

Also z.B. hat ein Soziologieprofessor in Bielefeld den zeitgenössischen Islam als "kollektive Zwangsneurose" bezeichnet, sicherlich sehr zur Freude Freuds ("Eine dieser Wirkungen wäre das Auftauchen der Idee eines einzigen grossen Gottes, die man als zwar entstellte, aber durchaus berechtigte Erinnerung anerkennen muss. Eine solche Idee hat Zwangscharakter, sie muss Glauben finden. Soweit ihre Entstellung reicht, darf man sie als Wahn bezeichnen, insofern sie die Wiederkehr des Vergangenen bringt, muss man sie Wahrheit heissen. Auch der psychiatrische Wahn enthält ein Stückchen Wahrheit, und die Überzeugung des Kranken greift von dieser Wahrheit aus auf die wahnhafte Umhüllung über." aus: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Zweiter Teil, Abschnitt g). Und Mehmet Ayhan, Präsident der "Islamischen Religionsgemeinschaft", erstattet Anzeige und wird zitiert mit: "Wir fühlen uns sehr beleidigt", "Dieser Mann ist eine Ameise. Er hat an einer Hochschule nichts zu suchen".

Dann hat die Supermarktkette Penny noch zwei Karnevalskostüme mit religiösem Bezug aus dem Sortiment genommen, nachdem sich Christen wegen Verletzung ihrer religiösen Gefühle beschwert hatten. (Interessant ist hier auch noch die Verbrüderung der Muslime vom "Muslim Markt" mit den sich beklagenden Christen.)

Und in Irland ist das neue Blasphemiegesetz in Kraft getreten. Demnach ist Blaphemie nun definiert als stark religiöse Gefühle verletzendes Material, das den öffentlichen Frieden stören soll und es auch tut. Dafür gibt es dann u.U. deutliche Geldstrafen. (Und hier seinen Muslime besonders glücklich über die neue Regelung.)

Natürlich hat ein jeder ein Recht auf seine eigene Meinung. Aber keine, wirklich keine Meinung hat ein Recht darauf, nicht kritisiert zu werden. Es ist gefährlich, im Entgegenkommen bei Beschwerden religiöser Gruppen immer mehr Meinungsfreiheit zu opfern. Und es wäre unerträglich, würden unter Berufung auf die Schutzwürdigkeit religiöser Gefühle quasi nicht kritisierbare Inseln geschaffen. Und auch wenn die Grenze zur persönlichen Beleidigung gewahrt bleiben muss, so darf es doch nicht im alleinigen Ermessen einer religiösen Gemeinschaft liegen, zu entscheiden, wann ihre Gefühle übermäßig verletzt sind.
Und doch wird anscheinend schnell der traditionell (gegen Weltliches und Geistliches) respektlose Geist des Karnevals aufgegeben, wenn es christliche Beschwerden gibt. Und es scheint schon problematisch zu sein, öffentlich religionskritische Bezüge auf Freud herzustellen. Doch wenn durch diese beiden Vorkommnisse die Grenze zur Blasphemie bereits erreicht wird, so sollten eine Reihe von historischen Schriften besser verboten und aus öffentlichen Bibliotheken entfernt werden?

Denn etwa Friedrich Nietzsche äußert sich abfällig über die "Sklavenmoral" des Christentums (Jenseits von Gut und Böse) und bezeichnet Religionsstifter allgemein als Betrüger, die aus dem Zustande der Selbsttäuschung nicht mehr herausfinden (Menschliches Allzumenschliches).

Oder gar Karl Marx, der über das "Opium des Volkes" sagt, es sei ein von der Gesellschaft hervorgebrachtes verkehrtes Weltbewusstsein, das es außerdem noch zu bekämpfen gelte (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie).

Und eben auch Sigmund Freud, für den neben dem schon gesagten u.a. auch noch die "Frohe Botschaft" der Tilgung menschlicher Schuld durch den Tod Jesu am Kreuze "wahnhaft" ist (Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Zweiter Teil, Abschnitt h).

Und Bertrand Russell ist auch völlig inakzeptabel. U.a. ist für ihn das Christentum verantwortlich für Intoleranz und "katastrophale Effekte" auf die Moral (in: Has Religion Made Useful Contributions to Civilisation?), und er nennt Gottesglaube auch noch in einem Satz mit Stalins Doktrinen (in: Religion and Morals). Beides z.B. erschienen im Essayband Why I am not a Christian.

Diese Liste ließe sich noch sehr lange fortsetzen und erweitern. Selbst heliozentrisches Weltbild und Evolutionstherie sind da inakzeptabel, haben sie doch bereits massiv religiöse Gefühle verletzt.
Wenn aus falsch verstandener Toleranz, aus kommerziellem Interesse, oder einfach nur des lieben Friedens willen die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, verlieren wir mehr als nur ein paar "belanglose Stimmen" Einzelner. Wir riskieren das, was diese Gesellschaft ausmacht.

Donnerstag, 21. Januar 2010

Warum gerade ich?

In meinen Jugendjahren habe ich ja gelegentlich die Sendung "Herzblatt" geguckt, mit Rudi Carrell. Bis es mir dann zu offensichtlich wurde, daß die vorbreiteten Fragen für den Partnersuchenden nur mit vorbereiteten Texten von den Kandidaten beantwortet wurden. Nie hätte ich geahnt, wie gut man durch diese Fernsehsendung auf das Leben vorbereitet wird! Denn in einem heutigen Vorstellungsgespräch läuft es doch ganz genauso! Zwar wartet statt des Herzblatt-Hubschraubers ein Arbeitsvertrag auf den erfolgreichen Kandidaten, doch die Prozedur, die es über sich ergehen zu lassen gilt, ist genau die selbe. Man bekommt originelle Fragen gestellt nach der Art "Warum wollen sie gerade bei uns arbeiten?", "Wo sehen sie sich in fünf Jahren von heute?", oder auch "Worin sehen sie selber ihre größte Schwäche?". Das letzte, was als Antwort erwartet wird, ist nun die Wahrheit (oder glaubt tatsächlich ein Personaler, irgendwer würde auf die Idee kommen, ehrlich zu antworten?). Also werden auf die Standardfragen die vorbereiteten Antworten dargeboten. Und statt "Ich suche Arbeit und habe mich auf alles beworben, was auch nur halbwegs auf mich paßt", "Da wo ich jetzt auch bin, bloß hoffentlich mir Arbeit", und "Faulheit und Konzentrationsprobleme" bringt man die schönen Antworten aus Bewerbungsratgebern zu Gehör, oder vieleicht hat man sich sogar zumindest eine Variante selber ausgedacht und zurechtgelegt. Das ganze wird noch etwas garniert mit sozialer Verantwortung und irgendwas Internationales, und fertig.
Erst wenn dieses Spiel überstanden ist, sagt der Personalchef irgendwann, wer denn sein Herzblatt ist. Was soll diese ganze Prozedur? Will man den potentiellen Mitarbeiter aussuchen, der am besten auswendig lernen kann, und lügen, ohne rot zu werden? Oder soll doch nur verschleiert werden, daß man letztlich auch keine besseren Kriterien für die Auswahl hat als die Nase des Kandidaten, oder einen Würfel? Na dann: Schon als Kind habe ich davon geträumt, Papierkörbe auszuleeren, und das in der Pharmabranche zu tun, gäbe mir endlich die Möglichkeit, meinen Beitrag zum Wohle der Menschheit zu leisten!

Dienstag, 19. Januar 2010

Kreationismus für Leute, die Formeln mögen

Um schon mal einer falschen Erwartung vorzubeugen, hier geht es nicht um Kreationismus oder Intelligent Design im engeren Sinne, sondern um einen teleologischen Gottesbeweis. Aber letzlich laufen ja auch alle kreationistischen Theorien auf die teleologische Argumentation hinaus: bei Betrachtung der physischen Welt könne man Strukturen sehen (etwa Komplexität oder Zielgerichtetheit), deren Zustandekommen durch "Zufall", d.h. ohne Zutun eines übernatürlichen Willens, unmöglich, oder doch zumindest extrem unwahrscheinlich ist. Also könne man den Schluß ziehen, daß Gott als Träger dieses Willens existiert. "Betrachtung der Welt" kann dabei erschiedenes heißen, und die Mehrheit der Betrachtungen konkurieren gegen die Evolutionstheorie, oder gar wissenschaftliche Theorien überhaupt. Denn letztlich greifen ja naturwissenchaftliche Theorien tief ineinander, und wenn beispielsweise radiologische Altersbestimmungen angezweifelt werden, weil man als Kreationist einer bestimmten Geschmacksrichtung eine "junge Erde" bevorzugt, so wird damit u.U. eine physikalische Theorie angezweifelt, die in viele andere Bereiche des Lebens hinein wirkt. So wird der Kreationist, der die Theorie der Radioaktivität abzulehnen geneigt ist, dennoch nicht an einer medizinischen Behandlung zweifeln, die unter Verwendung radioaktiver Materialien zustande kommt.
Aber es geht auch deutlich intelligenter. So kann man sich zum einen vom zwingenden Schluß auf die Existenz Gottes verabschieden, und nur noch zu beweisen trachten, daß die Existenz Gottes wahrscheinlicher ist als seine Nichtexistenz. Oder noch schwächer, daß die Beobachtung der Welt für die Existenz Gottes spricht. Der Begriff "Gottesbeweis" sei also in einer recht milden Weise verstanden. Zum anderen kann man es vermeiden, sich auf eine direkte Konkurenz mit naturwissenschaftlichen Theorien einzulassen. Man darf also nicht mehr mit einzelnen Beobachtungen der materiellen Welt argumentieren, mit denen sich Evolutionsbiologie, Chemie, Physik, oder welche Naturwissenschaft auch immer beschäftigen, sondern muß die Argumentation auf eine Metaebene heben. Nicht mehr den Naturgesetzen unterworfene Erscheinungen sind es, von denen aus auf Gott geschlossen wird, sondern die Existenz von Naturgesetzen selber kann als Argument verwendet werden. So hat es beispielsweise Richard Swinburne gemacht, und seine Argumentation ist zusammengefaßt in dem Beitrag "Swinburnes Deutung des teleologischen Gottesbeweises" von Edmund Runggaldier in F. Ricken (Hrsg.), 1991, Klassische Gottesbeweise in der Sicht der gegenwärtigen Logik und Wissenschaftstheorie, Verlag W. Kohlhammer. Ich habe dieses Buch ja schon erwähnt.
Mittel der Wahl, die Wahrscheinlichkeit einer These wie die der Existenz Gottes zu untersuchen, ist natürlich Bayes' Theorem. Und das ist immerhin mathematisch solide, hat einen guten Ruf, und sieht auch klug aus.
Zunächst will ich knapp wiederzugeben versuchen, wie dieser spezifische teleologische Gottesbeweis funktioniert. Auf all die vielen Einladungen, Einwände gegen die gemachten Annahmen zu erheben, will gar nicht eingehen. Allerdings will ich aber am Schluß der Ausführungen Argumente vorbringen, warum der Gottesbeweis, auch wenn man seine Prämissen akzeptiert, formal falsch ist. Und damit, weshalb keinesfalls beweisen ist, daß Gottes Existenz durch Beobachtungen der Welt wahrscheinlicher wird.
Zuerst aber noch eine kurze persönliche Bemerkung zum Vorhaben, die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes aus der Betrachtung der Welt abzuleiten. Ich finde es grundsätzlich bedenklich, die Wahrscheinlichkeiten für Gott an der Welt festzumachen. Denn eine Analyse der Hypothese "Gott existiert" mittels Bayes' Theorem beinhaltet immer die Möglichkeit, daß durch zusätzliche, neue Beobachtungen die Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der Hypothese wieder sinkt, zumindest falls man eine solche Analyse aufrichtig betreibt. Und dann muß man sich fragen, ob ein gläubiger Mensch in einem solchen Fall von seiner Religion ablassen würde. Oder anders gefragt, wären Menschen bereit, ihren Glauben oder Unglauben vom Fortschreiten der Untersuchungen der physischen Welt abhängig zu machen? Ich bezweifle dies sehr. Und damit erscheint mir der teleologische Gottesbeweis als reine Augenwischerei, der vermutlich nur Bedeutung beigemessen wird, solange die Wahrscheinlichkeiten für den Glauben sprechen. Eine hypothetische teleologische "Gotteswiderlegung", die bei dieser Art Argumentation zumindest theoretisch möglich wäre, würde dagegen vermutlich keine Akzeptanz finden. Schließlich können auch die schlimmsten Katastrophen wahre Gläubige nicht in der Vorstellung von einem allgütigen, allgerechten und allbarmherzigen Gott erschüttern, wie das Patre Benedetto so schön gepredigt hat.

Aber nun zur Sache. Mit h sei die Hypothese "Gott existiert" bezeichnet, mit b der Hintergrund an sonstigem Wissen, und mit e ein empirisches Argument, d.h. eine Evidenz, das auf sein Vermögen zur Stützung der Hypothese hin untersucht werden soll. Hier ist e die Beobachtung, daß es eine Ordnung in der Welt gibt. Eine solche Ordnung ist das Vorhandensein von Naturgesetzen, die unabhängig vom Menschen als universell im Universum waltend angenommen werden und von Menschen lediglich entdeckt werden. Es wird ausdrücklich akzeptiert, daß auch der Mensch selber diesen Naturgesetzen unterworfen ist, also etwa der Evolution. Insofern kommt dieser Gottesbeweis nicht ins Gehege der Naturwissenschaften, vielmehr werden diese selber in den Dienst des Gottesbeweises gestellt. Bezeichnet die Funktion p() die Wahrscheinlichkeit, die ihrem Argument zugeordnet wird, dann können wir Bayes' Theorem formulieren:
p(h|e.b) = p(e|h.b) p(h|b) / p(e|b)
Mit dem einfachen Punkt " . " sei hier das logische "und" bezeichnet, und p(x|y) bezeichne die bedingte Wahrscheinlichkeit von x, d.h. die Wahrscheinlichkeit, daß x wahr ist, unter der Voraussetzung, daß y wahr ist (Es ist wohl besser, hier von Aussagen und ihren Wahrheitswerten zu sprechen anstatt von Ereignissen und ihrem Eintreffen, wie das in der Wahrscheinlichkeitstheorie mitunter gemacht wird. Auf diese Weise vermeidet man Verwirrungen in Hinblick auf eventuelle zeitliche Abfolgen, über die durch das Theorem nichts ausgesagt wird. Aber man kann sich ja die Tatsache "Das Ereignis X ist eingetreten" übersetzt denken in: die Aussage "'Das Ereignis X ist eingetreten'" ist wahr"). Was genau alles im Hintergrund b steckt, wird leider nicht weiter ausgeführt. Lediglich die Existenz des Universiums ist für b aufgeführt. Das Ziel der Argumenation ist, zu zeigen, daß p(h|e.b) > p(h|b). Also das durch die Beobachtung einer Ordnung im Universium die Hypothese von der Existenz Gottes wahrscheinlicher wird als ohne diese Beobachtung. Es geht also um eine recht schwache Folgerung. Laut Theorem ist dies genau dann gegeben, wenn p(e|h.b) > p(e|b), also wenn die Ordnung im Universum unter der Hypothese der Existenz Gottes wahrscheinlicher ist als ohne diese Hypothese. Um argumentieren zu können, wird noch eine weitere Äquivalenz verwendet: p(e|h.b) > p(e|b) gilt genau dann, wenn p(e|h.b) > p(eh.b). Um dies zu sehen, muß man Bayes' Theorem für die Hypothese h und ihre Negation ¬h aufstellen, und die für die komplementären Hypothesen h und ¬h gültige Beziehung p(h|b) + p(¬h|b) = 1 verwenden. Nun wird argumentiert, daß Ordnung im Universum wahrscheinlicher sei unter der Annahme, daß es Gott gibt, als unter der Annahme, daß es Gott nicht gibt. Dazu wird zum einen angeführt, daß es sehr verwunderlich und unwahrscheinlich sei, wenn es die weitreichenden Naturgesetze ohne einen guten Grund gäbe, und daß Gott eben einen solchen Grund bietet. Und zum anderen wird argumentiert, daß Gott, so es ihn gibt, sicherlich ein geordnetes Universum schaffen würde, da ein solches schöner wäre als ein ungeordnetes, und Gott Schönheit bevorzugen würde. Außerdem wünscht Gott, daß seine Geschöpfe im Universum Macht über die Natur gewinnen können, und dazu brauche es ebenfalls eine Ordnung, die man ausnutzen könne. Also sei p(e|h.b) >> p(eh.b), und damit auch p(h|e.b) >> p(h|b), und man hätte ein Argument für Gottes Existenz. Ausdrücklich sei bemerkt, daß nicht gezeigt ist, das Gottes Existenz durch e wahrscheinlicher wird als seine Nichtexistenz, also nicht p(h|e.b) > p(¬h|e.b).

Viele Annahmen laden hier zu Kritik ein, die in unterschiedliche Richtungen führen. So etwa die Annahme, es gäbe Naturgesetze unabhängig vom Menschen und zu allen Zeiten und Orten. Man könnte dies anzweifeln, auch wenn es zweifelos die grundlegende Arbeitshypothese aller Naturwissenschaften ist, allen voran der Astronomie. Auch könnte man es vermessen und anthropozentrisch finden, daß Gott bestimme Willen unterstellt werden. Und sicherlich ist diese Annahme auch etwas anderes als die Identifizierung Gottes mit dem höchsten Wesen, dem Ersten Grund und dergleichen, wie es in anderen Gottesbeweisen gemacht wird. Und auch die Verwendung von sehr subjektiven Begriffen wie Schönheit und Macht mag bedenklich sein. Und generell scheinen viele Wahrscheinlichkeitseinschätzungen recht subjektiv. Aber auch wenn man all dies akzeptiert, bleibt ein anderer Einwand.

Das gravierende Problem in dieser Argumentation ist der Hintergrund b. Es wird nicht detailiert ausgeführt, was alles darin enthalten ist. Aber es ist nicht zulässig, irgendwelche Information zur Bewertung hinzuzuziehen, die nicht in der Hypothese oder im Hintergrund enthalten sind. Nun ist es in der Argumentation von Bedeutung, daß Gott aus verschiedenen Gründen ein geordnetes Universum bevorzugt. Diese Information, wenn man sie nicht zur Hypothese zählen will, muß dann in den Hintergrund, als Teil des Wissens über Gott. Dies ist alleine schon deshalb vernünftig, da es unsinnig erscheint, Wahrscheinlichkeiten für die Existenz von etwas abzuschätzen, über dessen Eigenschaften man keine Annahmen mancht. Noch weiteres Hintergundwissen wird für den Gottesbeweis benötigt, etwa die Allmacht Gottes. Diese Punkte werden in der Diskussion einfach unterschlagen.

Letztlich vernichtend für die Argumentation ist aber ein anderer Bestandteil des Hintergrunds. Dazu sollte man sich die Beobachtung e ansehen. Ist die Tatsache, daß die Welt geordnet ist, d.h. daß es Naturgesetze gibt, eine akzeptable Beobachtung, um etwas über die Wahrscheinlichkeit unserer Hypothese auszusagen? Sieht man auf andere Anwendungen von Bayes' Theorem, so bekommt man Beispiele, was gute Beobachtungen sind: Wenn ich die Ziehung der Lottozahlen verfolge, würde ich auch andere Zahlen als die tatsächlich gezogenen sehen können. Wenn die Beobachtungen von Planetenpositionen am Himmel als Evidenz zur Analyse einer Gravitationstheorie heranziehen will, so würde die Beobachtungsapparatur auch erlauben, die Position der Planeten an einer anderen Stelle des Himmels als der tatsächlichen zu vermessen. Wenn jemand den Schwangerschaftstest in den Morgenurin hält, kann sie dann den rosa Streifen wie auch das Fehlen des rosa Streifens erkennen. Aber wie ist es mit Ordnung des Universums? Wäre es im Prinzip möglich zu beobachten, daß das Universum ohne Ordnung ist, ohne Naturgesetze? Wohl kaum, denn in einem solchen Fall würden wir gar nicht existieren, um uns diese Frage zu stellen. Wie immer man sich so einen solchen anarchistischen Zustand vorstellen mag, ohne stabile Moleküle, eine zuverlässige Gravitation, sprich alles was durch die als existent angenommenen Naturgesetze geboten wird, würde es keinen Menschen geben. Und wenn es aus Prinzip unmöglich ist, etwas anderes als die Ordnung zu beobachten, dann ist diese Beobachtung auch nicht geeignet, die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese zu beurteilen. Statt dessen gehört das Wissen um die Ordnung in der Welt, wenn man es verwenden möchte, als Bestandteil in das Hintergrundwissens. Und zieht man diese Information aus b heraus und schreibt sie explizit, so sieht man nun
p(e|h.b'.e) = 1
Diese eher anschauliche Argumentation kann man auch formal führen. Sicherlich ist im Hintergrund die Information enthalten, daß es mindestens ein von Gott verschiedenes Wesen gibt, daß die Welt beobachtet, nämlich z.B. ich, wenn ich den Beweis führe. "Beobachten" möge verstanden werden als die physische Welt wahrnehmen und Naturgesetze in ihr erkennen können. Wenn G(x) also für "x ist Gott" steht und B(x) für "x beobachtet die Welt", so gilt
x[¬G(x) . B(x)] (1)
Außerdem wird noch die Annahme gemacht, daß die Existenz des Beobachtenden vom Vorhandensein von Naturgesetzen abhängt. Wenn N für das Vorhandensein von Naturgesetzen steht, so kann man das formalisieren zu (der Pfeil bezeichnet die logische Implikation)
¬N → ¬B(x) (2)
Diese Annahme abzulehnen ist problematisch. Man käme wieder in Konflikt mit den Aussagen der Naturwissenschaften, wie z.B. der Evolutionstheorie. Und dies ist sicherlich nicht im Sinne der Beweisführung, die ja explizit über naturwissenschaftlichen Aussagen stehen will und daher die Naturgesetze als solche als Argument führt. Und selbst wenn man der Ansicht wäre, daß der menschliche Geist von den Naturgesetzen unabhängig ist, so sind für Betrachtungen der Welt, die zur Entdeckung von Naturgesetzen führen, noch immer Auge, Ohr und technische Gerätschaften notwendig. Und diese sind den Naturgesetzen doch wieder unterworfen. Daher ist diese Annahme hier gerechtfertigt.
Was die Ordnung in der Welt angeht, muß man nur annehmen, daß das Vorhandensein von Naturgesetzen eine solche Ordnung darstellt, unabhängig davon, ob es noch andere geben könnte. Also muß man nur fordern, daß wenn e das Vorhandensein von Ordnung im Universum bezeichnet,
N → e (3)
Damit ist bereits alles beisammen:
¬N → ¬B(x)
B(x) → N
N → e
B(x) → e
x(¬G(x) . B(x)) → ∃x(B(x))
Also (1) . (2) . (3) → e
Damit ist also e nicht logisch unabhängig vom Hintergrund b, der u.a. (1), (2) und (3) beinhaltet. Und damit gilt
p(e|b) = 1
also auch
p(e|X.b) = 1
für alle beliebigen Aussagen X, u.a. auch für X = h, die Hypothese der Existenz Gottes. Und wenn man damit nun schlicht ins Bayes'sche Theorem geht, erhält man
p(h|e.b) = p(e|h.b) p(h|b) / p(e|b) = p(h|b)
Also bietet die Beobachtung e, daß es Ordnung im Universum gibt, keinerlei neue Information zur Bewertung der Hypothese von der Existenz Gottes. Dies gilt zumindest immer dann, wenn der Mensch selber seine Existenz dieser Ordnung verdankt.
Und damit hat dieser teleologische Beweis keinerlei Aussagekraft über die Wahrscheinlicheit der Existenz Gottes.

Samstag, 16. Januar 2010

"Es gibt tausend gute Gründe...

...auf dieses Land stolz zu sein.
Warum fällt uns jetzt auf einmal
kein einziger mehr ein?
"

Tausend Gründe fallen mir auch nicht ein, aber wenn man heute durch Spiegel-online blättert, bekommt man zumindest drei Gründe geboten:

1) Da hat doch eine Firma 2008 und 2009 1,1 Mio Euro an die FDP und 820 000 Euro an die CSU gespendet. Kaum gewählt, machten sich FDP und CSU erfolgreich an die Mehrwertsteuersenkung im Hotelgewerbe. Interessanterweise ist die spendende Firma Miteigentümer an einer Gruppe von 14 deutschen Hotels.

"...all die Korruption, die Union!"

2) Und dann hat da noch ein deutscher Oberst amerikanische Bomberpiloten belogen, um sie zu einen Bombenangriff auf einen Tanklastzug zu bewegen. Dabei sind mal gut 100 Menschen getötet worden. Aber das liegt ja in der Tradition deutscher Streitkräfte... Und wenn selbst die Amerikaner zu zimperlich sind, fällt dem Deutschen schon was ein.

"...für jeden Querkopf ein Gummigeschoß"

3) Und wenn man noch immer nicht genug Gründe gefunden hat: Vieleicht bekommen wir bald noch einen weiteren Naziverbrecherprozess. So prüfe die Staatsanwaltschaft Dortmund eine Anklage gegen einen Nazi-Lagerwachmann. Und so schön es ja sein mag, daß Deutschland gerade einmal 65 Jahre nach Kriegsende noch von einer Aufklärungslust erfaßt wird - was gibt einen faderen Geschmack im Mund: Das mutmaßliche Kriegsverbrecher ein ungestörtes Leben als Beamte in westdeutschen Ministerien führen konnten? Oder daß die Prozesslust gegen Kriegsverbrecher sich jetzt offenbar an ehemaligen Kriegsgefangenen der Roten Armee austobt? Vermutlich sind die "guten deutschen" Kriegsverbrecher eine seltene Ausnahme geblieben, und alle längst abgeurteilt?

"Wo sind all die ganzen Gründe
auf dieses Land stolz zu sein?
So sehr wir auch nachdenken
uns fällt dazu nichts ein!
"

Donnerstag, 14. Januar 2010

Toleranz über Alles

Ich müsste schon eine Weile nachdenken, um etwas zu finden, das ich ekelhafter finde, als mit Henryk Broder einer Meinung zu sein. Aber manchmal ist der Feind meines Feindes dann doch nicht mein Freund. Denn wenn Thomas Steinfeld in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung heute Sätze schreibt wie "Wer auf Toleranz beharrt, für den kann die Toleranz nicht aufhören, wenn ein anderer nicht tolerant sein will.", dann bin ich doch bass erstaunt! Es klingt ja gut und recht christlich, gewissermaßen nach dem Hinhalten der anderen Wange. Aber könnte es sein, daß es Gründe dafür gibt, daß dieses Prinzip von Christen in der Praxis nicht befolgt wird? Toleranz ist eine Tugend, die nur dann in einer Gemeinschaft funktionieren kann, wenn alle sie in einem gewissen Maße praktizieren. Sobald jemand bereit ist, sich selber über sie hinwegzusetzen, muß ihm vom Rest der Gemeinschaft Widerstand entgegengesetzt werden. Anderenfalls wird Toleranz zur Selbstverleugnung, und führt zurecht in den Verlust der Freiheit. Das heißt selbstverständlich nicht, daß ganze gesellschaftliche Gruppen, in denen es intolerante Tendenzen gibt, um jeden Preis bekämpft werden müssen, wie das Herr Broder mitunter zu fordern scheint. Aber es heißt auch nicht, daß bei einem Konflikt zwischen den Empfindungen zweier Parteien eine Seite immer weiter zurückzuweichen hat, bis die lautere Seite irgendwann hoffentlich mit dem Schreien aufhört.

Ausmerzen, oder nicht ausmerzen?

Unter den vielen Dingen, die mir als Laie am Christentum unverständlich sind, ist auch das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament. Die beiden Testamente unterscheiden sich nicht nur in Länge und Stil, sondern auch im Inhalt. Oft erscheinen sie geradezu widersprüchlich. Eine oft gehörte Erklärung der Beziehung der beiden Teile der Bibel ist nun, daß man sie als Schritte einer Entwicklung ansehen müsse, hin von einem Zustand der Unkenntnis jeder göttlichen Offenbarung hin zur Vollendung der Offenbarung durch Christus. Und zugegebendermaßen wird dann auch einiges verständlicher. Zum Beispiel das bekannte Auge um Auge-Prinzip: Vor dem 2. Buch Mose hat man jemanden, der einem das Auge ausstach, vieleicht erschlagen. Aber nach göttlichem Gesetz muß auch der Schuldige nur sein Auge verlieren (2. Mose 21, 24). Und nach Jesus steht es nun an, dem Schuldigen auch die andere Wange anzubieten (Math. 5, 38-39). Also gibt es hier immerhin eine Entwicklung. Oder man nimmt das Scheidungsrecht: Vor dem Alten Testament konnte man seine Frau wohl noch einfach verstoßen und das wars. Doch das Alte Testament fordert nun, daß man seiner Frau eine "Entlassungsurkunde" ausstellt (5. Mose 24, 1-4). Und Jesus stellt nun klar, daß man seine Frau gar nicht aus der Ehe entlassen kann, sofern sie nicht gerade Unzucht getrieben hat (Math. 5, 31-32).
Was ist aber nun mit den vielen Stellen des Alten Testaments, die von Jesus nicht explizit reformiert wurden, und die heute nicht mehr ernsthaft anerkannt werden? Nehmen wir als Beispiel mal den inzestuösen Geschlechtsverkehr: Da Gott nur zwei Menschen erschuf, muß er Inzest bei der von ihm gewünschten Vermehrung der Menschen (1. Mose 1, 28) in Kauf genommen haben (ob man die Schöpfungsgeschichte nun wörtlich nimmt oder nicht sei mal egal, das Bild bleibt schließlich das Bild). Oder noch etwas deutlicher: Lots geschlechtliche Beziehung zu seinen Töchtern (1. Mose 19, 30-38) provozierte auch keine Reaktion von göttlicher Seite (Im Gegensatz zur Homosexualität, wegen der er gerade immerhin zwei Städte zerstört hatte. Aber das ist eine andere Geschichte...). Später dagegen, im Buch Levitikus, wird der Inzest dann zu einer Gräuel für Gott, die den Tod verdient (3. Mose 18, 6-18 & 29, 3. Mose 20, 11-17). Im Neuen Testament wird der Umgang mit dem Inzest wieder ein kleines bisschen entspannter. Zwar stellt er immernoch ein schlimmes Verbrechen dar, aber zumindest wird man nur noch verstoßen, und verliert nicht mehr sein Leben (1. Kor 5, 1-2). Hier erfolgt also eine Entwicklung von egal über todeswürdig zum schweren, aber nicht mehr todeswürdigem Verbrechen. Dies stellt wohl keine so geradlinige Entwicklung in der göttlichen Offenbarung dar.
Nun mag man dem entgegenhalten, daß Stellen des Alten Testaments, die nicht von Christus bestätigt oder reformiert wurden, hinfällig seinen, da sie keine offenbarte Wahrheit enthielten. Um diese Position zu widerlegen kann man aber sogar kompetente christliche Hilfe hinzuziehen. So verwirft z.B. Erich Zenger diese Position mit selbst für Gottlose leicht nachvollziehbaren Argumenten in seinen Artikeln in Imprimatur 1/2004 und 2/2004.
Nun habe ich keinen Zweifel, daß Theologen eine Erklärung für diese Wirren in der Offenbarung liefern können. Aber die Frage ist nun, ob dies nicht vieleicht ein schöner Fall für Ockhams Messer ist? Immerhin wurde dies auch von christlichen Philosophen sehr geschätzt. Man kann die Wirren und Inkonsistenzen im Alten Testament mit der natürlichen These erklären, daß (nur) Menschen die Texte der Bibel eben über lange Zeit und mit veschiedenen Intensionen geschrieben haben. Sollte man diese These dann nicht als die Einfachere akzeptieren, verglichen mit einer, die noch die weitere Entität Gott benötigt, und dem sie einen komplizierten und zweifellos schwer nachvollziehbaren Willen unterstellen muß? Und damit verlöre dann auch das Neue Testament seine Grundlage, denn Christus beruft sich schließlich immerfort auf die alten Schriften.
Aber im Grunde geht es hier ja nicht um Ockhams Messer oder den gesunden Menschenverstand. Gläubige glauben, weil die dies wollen, und sie scheinen bereit, Logik und den kompletten gesunden Menschenverstand über Bord zu werfen, bevor sie ihren Glauben aufgeben. Und in einem solchen Fall sind alle Argumente natürlich machtlos.

Montag, 11. Januar 2010

Sag mir schlimme Dinge...!

Was ist eigentlich Qualität, und wie kann man sie erfassen? Offenbar ist Qualität eine eindimensionale, gequantelte Größe, die man ohne weiteres auf eine Anzahl von Sternchen, Punkten, oder was auch immer reduzieren kann. Denn keine Bewertungsseite im Internet kommt ohne so ein Punktsystem aus. Wenn es verschiedene Kriterien für eine Bewertung gibt, kann man ja den Mittelwert der Sternchen für die einzelnen Aspekte bilden. Und dann kann man noch den Mittelwert aller Bewertungen bilden, und fertig. Gibt es hinreichend viele Kommentare, verstehe ich ja noch die Mittelwertbildung, sofern die Streuung der Sternchenzahlen nicht allzu groß ist. Oder vieleicht besser, die Verwendung des mittleren Wertes, um nicht zu sehr von einzelnen Ausreißern abhängig zu sein. Aber wenn beispielsweise ein Buch von manchen Lesern mit fünf Sternchen bedacht wird, und von anderen mit einem, ist es deshalb ein mittelmäßiges Buch? Offenbar ist den Machern selber die Problematik beim Bewerten von Büchern bewusst, denn man kann auch die Bewertungen bewerten: War diese Rezension für Sie hilfreich? Ja/Nein. Die Frage ist nur, hilfreich wobei? Eine Entscheidung zu treffen, oder eine gute Entscheidung zu treffen? Es wird sehr faszinierend, wenn man ein bißchen in den Buchrezensionen auf Amazon.de stöbert. Das erste Merkmal, das auffällt, ist alleine das Vorhandensein von Rezensionen. So gibt es etwa zu Platons Dialog Parmenides 0 Rezensionen, zu Dieter Bohlens Der Bohlenweg: Planieren statt Sanieren immerhin 41. Kann man da schon die Relevanz eines Werkes ablesen? Immerhin setzt sich der Parmenides kritisch mit der platonischen Ideenlehre auseinander und führt die dialektische Methode in die Philosophie ein. Im Bohlenweg geht es dagegen um - keine Ahnung, hat keine eigene Wikipedia-Seite. Glaube ich zumindest.
Noch spannender wird dann natürlich, wenn man in die verschiedenen Rezensionen hineinschaut. So sagt z.B. Gerhard Braun:
"Dieser Roman ist das gescheiteste und gleichzeitig amüsanteste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe."
Und Tim Walther sagt:
"Kurzum: es ist hohl, es ist geschwätzig, niemand sollte meinen, dass er es lesen muss."
Doch doch, es geht in beiden Kommentaren um das gleiche Buch, Das Foucaultsche Pendel von Umberto Eco. Das der eine geschwätzig findet, was den anderen amüsiert, kann ich problemlos nachvollziehen. Das aber der eine hohl findet, was der andere für gescheit hält, hat mich etwas mehr verwundert. Zumindest bis mir wieder eingefallen ist, dass ich einmal irgendwo ein Interview mit irgendwem gelesen habe, der die Texte von Xavier Naidoo für anspruchsvoll hielt. Man sollte also mal ein bisschen systematischer versuchen, die Ursachen der mitunter sehr verschiedenen Einschätzungen desselben Buches zu verstehen.

Da gibt es die "Für einen Apfel schmeckt die Birne furchtbar"-Rezension. Z.B. wieder beim Foucaultschen Pendel, diesmal von Tom:
"Ich habe mir das Buch gekauft, da ich mir davon eine spannende Geschichte über die Templer erhofft habe. Satz mit X...
(...) Zwei Sterne bekommt das Buch jedoch trotzdem, da 20 % des Inhalts doch recht spannend ist. Insgesamt ist es aber doch eher enttäuschend."

Oder die "Finde ich eh alles Mist"-Rezension, etwa von S. Gerhard zu dem Lehrbuch Quantenmechanik von Cohen-Tannoudji, Diu und Laloe:
"Leider kommt man während eines Physikstudiums um dieses Buch nicht herum, ich habe es gehasst, genau wie die gesamt Quantenmechanik."

Und die "Ich hab gehört, wie es ist"-Rezension, hier von Sara zum Bohlenweg:
"habe das Hörbuch verschenkt. das erste von ihn war aber wohl viel lustiger und besser. aber man kann es sich anhören"

Scheinbar verwandt, aber doch deutlich verschieden davon sind die "Sowas kann ich nicht lesen"-Rezensionen. So schreibt ein Kunde zu Die Pest von Albert Camus:
"Ich konnte es nicht über mich bringen mehr als 30 Seiten von diesem dilettantischen Mist zu lesen."
Damit tue ich mich schon etwas schwerer. Muss man eine komplette Staffel DSDS ansehen, bevor man ein Urteil darüber spricht? Oder alle Xavier Naidoo-Songs anhören? Oder eben alle Seiten eines Buches lesen, bevor man sagen kann, dass es nichts taugt? Um einen persönlichen Eindruck zu bekommen, wohl nicht. Aber es läuft ja schon darauf hinaus, dass der persönliche Eindruck gerade das Problem bei Rezensionen ist.

Dann gibt es da noch die "Hintergrund"-Rezension. Z.B. von Bernhard Erdpresser zum Foucaultschen Pendel:
"Also zwei sterne nur weil Umberto sonst ganz gute Bücher schreibt."
Oder, auch sehr schön, von Marcus zu Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez:
"Nur beiläufig kann man noch sagen, daß ein Mensch der Fidel Castro und sein grausames und menschverachtendes Regime hofiert und unterstützt, doch nicht gut sein kann!"

Dann gibt es da noch die "Experten"-Rezension, die die Analyse auf ein ganz neues Niveau bringt. So mag etwa F. Alternburg die deutsche Übersetzung eines Schachbuchs von Bobby Fischer nicht:
"Bezeichnend ist die schwache Übersetzung des Titels, so bedeutet "my 60 memorable games" eher "60 meiner großen Partien". Sicher intendierte Fischer nicht, wie im deutschen Titel naheliegend, daß er nur 60 Partien spielte, die über den Tag hinaus gingen."
Was Herr Fischer mit dem Titel "My 60 Memorable Games" intendierte, kann man ihn nun leider nicht mehr fragen. Aber man sollte anmerken, dass die beanstandete deutsche Übersetzung "Meine 60 Denkwürdigen Partien" lautet.

Und zuletzt seine noch die "philosophischen" Rezensionen erwähnt. Hier kommt der Rezensient zu tiefgründigen neuen Einsichten. So etwa Dreamcatcher nach der Lektüre des Bohlenweges:
"Ich möchte auch erfolgreich sein, und nachdem ich das Buch gelesen habe, traue ich mich auch das jetzt so offen zu sagen. Denn eigentlich ist es verpöhnt, nach Geld und Erfolg zu streben. Doch wo kämen wir hin, wenn jeder so denke?"
Wie verpönt es in dieser Gesellschaft ist, nach Geld und Erfolg zu streben, wenn selbst der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei damit liebäugelt - ich bin mir nicht sicher. Vieleicht hat Dreamcatcher nur übersehen, dass man nicht zugibt, nach Geld und Erfolg zu streben, solange man beides nicht hat. Denn sonst müsste man ja seine eigene Unfähigkeit eingestehen. Und wenn man es erreicht hat, gibt man auch nicht zu, danach gestrebt zu haben - das wirkt viel bescheidener und doch gleichzeitig souverän. Aber wo wir hinkämen, wenn niemand nach Geld und Erfolg strebte, dass kann ich mir schon düster ausmalen. Besonders, wenn man im Hinterkopf behält, was gemeinhin als alternative Ziele des Strebens gehandelt wird: Glück, Nächstenliebe, oder Weltfrieden.

Was all diesen furchtbaren Buchrezensionen gemeinsam ist, ist ihre gräßliche Subjektivität. Gut, einem jeden steht es natürlich frei, ein Buch nicht zu Ende zu lesen, weil man es nicht mag, oder etwas anderes erwartet zu haben, oder das ganze Thema uninteressant zu finden. Aber was sagt das über das Buch aus, und was über den Rezensienten? Es gibt so etwas wie überpersönliche Kriterien für Qualität. Ich selber mag manches Buch nicht, obwohl ich zugeben muss, dass es gut geschrieben ist. Und es gibt manch anderes Buch, dass mich sehr amüsiert, obgleich ich weiß, dass es im Grunde Schund ist. Also sollte man ein Buch nicht von dem ausgehend besprechen, was man gerade mag, sondern von dem Buch und seinem Kontext aus. Ansonsten wird die Bewertung eines Buches zu einer reinen Abstimmung über Geschmack. Und das kann man wohl kaum wollen?

Links Zwo Drei Vier...

Gestern Abend kam auf Deutsche Welle TV die Wiederholung einer "Talking Germany"-Folge mit einem halbstündigen Interview mit dem Theologen und Pädagogen Bernhard Bueb. Und jetzt weiß ich wieder, weshalb beide Berufsgruppen bei mir einen Ekelreflex auslösen. Neben dem üblichen konservativen Geschwätz von Disziplin, Drogentests und der deutschen Sprache unter dem Schutz des Grundgesetzes durfte sich Herr Bueb über Führung verbreiten. Lehrer sollen ihre Klassen führen, der Schuldirektor soll die Lehrer führen. Nur wer den Schuldirektor führen soll, und wer wiederum denjenigen, das blieb unklar. Vermutlich ist uns ein Lob des Führerprinzips nur deswegen erspart geblieben, weil der senile Elitenvertreter rechtzeitig das Denken eingestellt hat. Ein schöner Beitrag, gerade für das englischsprachige Programm der Deutschen Welle. Denn wohl nur so läßt sich kurzfristig vermeiden, daß die Welt mit Deutschland nicht nur Mercedes und BMW assoziiert, sondern auch noch Disziplin und Führerprinzip!

Sonntag, 3. Januar 2010

Das Ende ist nah! Bloß, wie nah?

Und er sagte zu mir: Versiegle dieses Buch mit seinen prophetischen Worten nicht! Denn die Zeit ist nahe.
Wer Unrecht tut, tue weiter Unrecht, der Unreine bleibe unrein, der Gerechte handle weiter gerecht und der Heilige strebe weiter nach Heiligkeit.
Siehe, ich komme bald und mit mir bringe ich den Lohn und ich werde jedem geben, was seinem Werk entspricht.

Offenbarung, 22, 10-12

Das die Endzeit angebrochen ist, ist ja wahrlich nichts Neues. Aber es sind nicht zur die Zeugen Jehowas und irgendwelche Ufo-Sekten, die in der Endzeit leben, nein, auch die Katholiken sind dabei. Zumindest die im Bistum Würzburg denken dieses Jahr besonders daran. Also daran, daß die Endzeit mit der Geburt Christi begonnen hat. Und in diesem Fall ist es bestimmt nicht schlecht, sich die Endzeit mal wieder vor Augen zu führen.
Nur: wenn wir schon seit grob gesagt 2000 Jahren in der Endzeit leben, dann ist das schon ziemlich lange, scheint mir. Wenn die Schöpfung nach fundamentalistischer Sicht so vor ungefähr 6000 Jahren stattgefunden hat, dann ist die Welt immerhin schon zu einem drittel ihrer Existenz in ihrer Endzeit. Und wenn man nicht an die Erschaffung der Welt vor 6000 Jahren glaubt? Dann könnte man zum Vergleich immerhin Daten heranziehen, wie die Dauer der schriftlich aufgezeichneten Geschichte (so ganz grob seit 5000 Jahren), oder etwa die Zeit seit den Ereignissen in den Büchern Mose (etwa 4000 Jahre). Und man kommt zum Schluß, daß die Geschichte sich bisher schon zu einem Drittel bis zur Hälfte in ihrer Endzeit abspielt. Wenn die Geschichte nun ein Film wäre, und die Schlußphase fast die Hälfte des Films einnehmen würde - dann würde man sich schon Fragen, was für ein mieser Regisseur für ein solch nervtötend ödes Werk verantwortlich ist!
Maranatha, hophop!

Freitag, 1. Januar 2010

Auf der Jagd in der Moderne...

Es gibt eine besondere Art von Nachrichten, die sich in zwei Unterkategorien einteilen lassen:
1a: Meldungen über Ereignisse, die sich jedes Jahr, am selben Tag, ja zur selben Stunde ereignen, und dennoch immer wieder in die Nachrichtensendungen kommen: Der Papst hat die Weihnachtsmesse gelesen, Der Papst hat die Ostermesse gelesen, Das neue Jahr wurde in Sydney bereits mit einem Feuerwerk begrüßt,..
1b: Meldungen, über Ereignisse, die sich jedes Jahr wieder wiederholen, aber immer an verschiedenen Tagen: Der Ferienbeginn hat zu Staus auf den Autobahnen geführt, Der Wintereinbruch hat ein Verkehrschaos verursacht,...

Gut, dies mag halt so sein. Aber wenn man noch einen weiteren Aspekt mit hinzu nimmt, kann einen ein ungutes Gefühl beschleichen. Da hat die Regierung eine Abwrackprämie (nein: Umweltprämie) für alte Autos eingeführt, den Mehrwertsteuersatz für Hotelübernachtungen auf 7% gesenkt, und will in diesem Jahr fast 86 Mrd. Euro neue Schulden machen.

Wo da jetzt der Zusammenhang ist? Naja, vor etlichen Jahrtausenden hat ein Teil der Menschheit den Übergang von der Jäger- und Sammlerkultur zu Ackerbau und Viehzucht vollzogen. Dies war sicherlich ein ausgesprochen bedeutender Schritt in der Entwicklung der Menschheit: Eine Bevölkerungsexplosion setzte ein, plötzlich waren Lebensmittel für viel mehr Menschen verfügbar, die Verbreitung ganzer Sprachfamilien zeugt von der Überlegenheit der neuen Kulturen, die Sesshaftigkeit ermöglichte die Entwicklung von neuen Handwerken,...
Für diese Entwicklung waren zwei geistige Fähigkeiten die unbedingten Voraussetzungen:
- Die Fähigkeit, mindestens ein Jahr im voraus zu denken, um den Landbau zu organisieren und eine Ernte vorzubereiten
- Die Fähigkeit zum Lustaufschub: man musste zu einer Zeit viel und hart arbeiten, ohne eine unmittelbare Belohnung für die Arbeit zu erhalten. Denn die Ernte konnte man vieleicht erst ein halbes Jahr nach der Arbeit einbringen.

Und wenn man nun sieht, dass man dasselbe Ereignis jedes Jahr wieder in den Nachrichten bringen kann, jedes Jahr der Schnee aufs neue überraschend kommt, und das politische Entscheidungen nur für die Gegenwart getroffen werden, dann beschleicht mich der Verdacht:
Noch einmal würden wir den Sprung vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern und Viehzüchter nicht bewältigen...!