Freitag, 2. Oktober 2015

Alles so schön bunt hier!

Es wird mal wieder Zeit für ein kleines bisschen zweckbefreite Spielerei hier. Hatten wir ja auch schon länger nicht mehr. Der nichtige Anlass ist eine Diskussion über die farbigen Schlieren auf einem Ölfilm auf nasser Strasse. Die Erklärung dafür kennt man vielleicht noch aus der Schule - es ist die Interferenz. Das an der Grenzfläche von Luft zu Öl reflektierte Licht überlagert sich, sofern die Dicke des Ölfilms gering genug ist, mit dem von der Grenzfläche Öl-Wasser reflektiertem Licht in einer festen Phasenbeziehung. Addiert man die beiden reflektierten Wellen, dann verstärken oder schwächen sie sich gegenseitig, je nach Wellenlänge des Lichts, Dicke des Ölfilms und Einfallswinkel des Lichts. Kennt man die Brechungsindizes von Luft, Öl und Wasser, dann kann man auch ausrechnen, bei welchen Wellenlängen sich die beiden reflektierten Wellen maximal verstärken oder abschwächen. Ich hab das mal in einer kleinen Skizze zusammengefasst:

Durch das Verstärken und Abschwächen bei verschiedenen Wellenlängen kommt ein Farbeffekt zustande, der mit der Dicke des Ölfilms variiert und so Farbschlieren auf einem Ölfleck hervorbringt.
An dieser Stelle hören die Erklärungen von der Wikipedia bis zum Physikbuch normalerweise auf. Nur bleibt doch noch die Frage, welche Farben man denn nun genau sehen sollte bei einer bestimmten Dicke des Ölfilms, und ob das auch die Farben sind, die man tatsächlich sieht? Also, ziehen wir es durch! Bringen wir es zum Ende! Bestimmen wir die genaue Farbabfolge, die man auf einem Ölfilm auf nasser Strasse sehen sollte!

Dazu brachen wir drei Dinge. Erst einmal müssen wir wissen, welcher Anteil des einfallenden Lichts bei einer bestimmten Wellenlänge genau reflektiert wird. Dazu müssen wir die reflektierten Wellen mit der richtigen Phasenverschiebung addieren. Allerdings müssen wir auch wissen, welcher Anteil der Welle an einer Grenzfläche reflektiert wird, und welcher gebrochen wird und in die folgende Schicht weiterläuft. Kann man noch hinbekommen, braucht man die Wikipediaartikel zur Interferenz und den Fresnelschen Formeln zu… Genau genommen müssten wir allerdings nicht nur zwei Strahlen betrachten, denn die Aufspaltung zwischen reflektiertem Anteil und gebrochenen Anteil findet ja immer wieder statt. Etwa so:

Gut, in der Praxis erhalten wir sicher eine sehr gute Näherung, wenn wir nur die ersten zwei austretenden Strahlen betrachten. Die Amplitude der austretenden Welle wird mit jeder weiteren Reflexion und Brechung stark abnehmen und der wesentliche Beitrag kommt durch die Überlagerung des direkt reflektierten Anteils und des ersten wieder austretenden Anteils zustande. Trotzdem. Die Überlagerung von nur zwei Wellen, mal echt jetzt - das ist doch was für Pussies! Wer Interferenz mit zwei Strahlen macht, der ruft auch bei Papierstau nach dem Admin und hält Tofu für ein menschliches Nahrungsmittel! Wir berechnen den reflektierten Anteil des einfallenden Lichts aus der Überlagerung aller (im Prinzip unendlich vieler) Strahlen richtig und benutzen dazu die Transfermatrix-Methode. Darauf, wie die funktioniert, gehen wir hier aber nicht ein [1]. Was sonst noch nötig ist, das sind die wellenlängenabhängigen Brechungsindizes für Luft, Wasser und das Öl. Sowas kann man sich gut hier besorgen. Für das Öl nehmen wir mal die Werte für Benzol. Davon sollte zwar (hoffentlich) nicht allzu viel im Öl drin sein, mit seinem Brechungsindex von um die 1,5 ist es aber ziemlich typisch für Öliges und was Besseres habe ich nicht gefunden. Wird's schon tun. Jetzt können wir den reflektierten Anteil des Lichts für jede Wellenlänge des Lichts und für verschiedene Dicken des Öl- oder genauer, Benzolfilms, auf Wasser ausrechnen. Die Ergebnisse sind hier mal in einer Animation zusammengefasst:
Der Wellenlängenbereich auf der x-Achse entspricht in etwa dem Bereich des sichtbaren Lichts, der violette Teil des Spektrums ist am linken Ende der Achse, der Rote am rechten Ende. Auf der y-Achse ist der reflektierte Anteil des auf den Benzolfilm auftreffenden Lichts in Prozent aufgetragen. Der Lichteinfall ist hier (und der Einfachheit halber im ganzen Rest dieses Textes immer) senkrecht.
Man erkennt, wie sich mit ansteigender Dicke des Benzolfilms ein immer dichteres Interferenzmuster aus Minima und Maxima im reflektierten Licht aufbaut und wie es sich mit der Wellenlänge verändert. Es kommt übrigens nie, wie in vielen einfachen Beispielrechnungen üblich, zu einer völligen Auslöschung des reflektierten Lichts im Falle maximal destruktiver Interferenz. Das liegt daran, daß die Amplituden der einzelnen reflektierten Wellen unterschiedlich sind (sie sind durch die Unterschiede in den Brechungsindizes der verschiedenen Schichten festgelegt) und sie sich nie komplett gegenseitig aufheben können. So bleibt auch im Minimum immer etwa 2% des Lichts übrig.

So weit, so gut. Die Erste der drei Zutaten haben wir damit. Wir können für jede Wellenlänge und für jede Schichtdicke den Anteil des reflektierten Lichts ausrechnen. Aber die Farbe, die man beim Blick auf die Benzolschicht auf dem Wasser sieht, hängt nicht nur davon ab, welcher Anteil des einfallenden Lichts bei welcher Wellenlänge reflektiert wird. Sondern auch, wieviel Licht bei welcher Wellenlänge überhaupt auf die Oberfläche auftrifft. Mithin also von der Beleuchtung. Damit können wir es uns ruhig einfach machen. Es gibt viele standardisierte Beleuchtungen. Für solche Standardisierungen ist die Internationale Beleuchtungskommission CIE zuständig. Das klingt vielleicht erst einmal ein bisschen merkwürdig, aber wenn man sich überlegt, welche Bedeutung Farben und Beleuchtungen in allen Bereichen des menschlichen Lebens haben, dann ist es eigentlich nicht mehr verwunderlich, dass es auch jemanden gibt, der für sowas Industrienormen macht. Eine häufig verwendete (und letztlich hier besonders einfache zu handhabende) Standardbeleuchtung ist das Spektrum mit dem poetischen Namen D65. Das ist ein Beleuchtungsspektrum, das repräsentativ für das diffuse Tageslicht um die Mittagszeit in Mitteleuropa ist. Man kann es sich bei der CIE herunter laden, so sieht es aus:
Das nehmen wir, und fertig ist Teil zwei. Wenn wir dieses Beleuchtungsspektrum mit einer berechneten Reflexionskurve für eine gewünschte Schichtdicke multiplizieren, dann bekommen wir die tatsächlich bei jeder Wellenlänge von der Oberfläche ausgehende Lichtmenge heraus.

Jetzt fehlt noch der dritte und letzte Teil. Die Farbe, die wir beim Blick auf den Benzolfilm wahrnehmen, hängt nicht nur vom reflektierten Anteil des einfallenden Lichts und der Beleuchtung ab, sondern auch noch von der wellenlängenabhängigen Lichtempfindlichkeit des menschlichen Auges. Das klingt kompliziert, aber auch hier können wir einfach bei Standardisierungen bleiben. Denn die CIE normiert nicht nur Beleuchtungen, sondern auch die menschliche Wahrnehmung.
Die Netzhaut des Auges enthält drei verschiedene Arten von farbempfindlichen Sinneszellen mit maximalen Empfindlichkeiten bei verschiedenen Wellenlängen. Aus diesen drei Reizen wird die menschliche Farbwahrnehmung zusammengesetzt. Die normierten Empfindlichkeiten dieser drei Zellenarten in Abhängigkeit von der Wellenlänge gibt's auch auch den CIE-Seiten. Sie bilden den "CIE kolorimetrischen Standardbeobachter" von 1931 und sehen so aus:
Wenn wir jede dieser drei Empfindlichkeitskurven mit dem Ergebnis unserer vorherigen Schritte (der bei jeder Wellenlänge von der Oberfläche ausgehende Lichtmenge) multiplizieren und das Ergebnis über die Wellenlängenachse integrieren, dann bekommen wir drei Zahlen heraus, eine für jeden Typ von Farbwahrnehmungszellen in der Netzhaut. Diese drei Zahlen heissen "Tristimulus", die Stimulation der drei Sinneszellen, und sind die Farbe, die wir sehen. Machen wir die ganze Rechnung mal für eine Benzolschicht mit einer Dicke von 0.35 Mikrometern, dann ist das Ergebnis die drei Zahlen 442,6, 335,4 und 629.2.
Noch nicht sehr beeindruckend. Was uns für eine Interpretation fehlt, ist das psychologische Element bei der Sache. Welchen Farbeindruck habe ich denn, wenn meine farbempfindlichen Sehzellen Stimulationswerte von 442,6, 335,4 und 629,2 erleben? Praktischerweise ist auch das wieder in Industrienormen geregelt. So gibt es für verschiedene Farbräume Umrechnungsvorschriften, mit deren Hilfe man vom Tristimulus zu einer Farbe kommt. Wir können z.B. den Standard-RGB-Farbraum, sRGB, nehmen. Das ist der Farbraum, den Computermonitore gerne benutzten. In diesem Farbraum wird jede Farbe durch die Mischung von drei Grundfarben erzeugt, Rot, Grün und Blau (Jaaa, der Name "RGB" ist kein Zufall!). Die Intensität der jeder dieser drei Grundfarben in der Mischung wird durch eine 8-bit-Zahl beschrieben, d.h. einer Zahl im Wertebereich von 0 bis 255. Die Umrechungsvorschrift vom Tristimulus in die drei Intensitätswerte im sRGB-Frabraum können wir uns z.B. bei der Wikipedia besorgen. Für den Beispielfall der Benzolschicht mit 0,35 Mikrometern Dicke liefern die Tristimuluswerte die Intensitätswerte von 68, 40 und 69.
Gut, immer noch nicht so wahnsinnig beeindruckend. Aber jetzt können wir einfach dem Computer sagen, benutze den sRGB-Farbraum und setzte die Intensitätswerte des roten, grünen und blauen Farbkanals auf 68, 40 und 69. Dann taucht eine Farbe auf dem Bildschirm auf. Und unter allen Farben, die der Bildschirm (im sRGB-Farbraum) darstellen kann, ist dies dann die Farbe, die dem Farbeindruck beim Betrachten eines Benzolfilms von 0,35 Mikrometern Dicke auf Wasser unter typischer Tageslichtbeleuchtung am nächsten kommt. So:
Also ein dunkles Violett. Damit sind wir durch. Alles, was zu tun bleibt, ist die Farbe für alle möglichen Schichtdicken zu berechnen und in einen Farbbalken einzutragen. So sehen die Farbmuster eines Benzolfilms auf Wasser in Abhängigkeit von der Filmdicke aus:
Die Farben wirken alle recht dunkel. Das liegt daran, daß in der Berechnung nur Licht von oben einging und alles Licht, das ins Wasser hinein gelangt, auf Nimmerwiedersehen darin verschwindet. Es ist also das Ergebnis für einen perfekt schwarzen Hintergrund. Um die Farben deutlicher zu sehen, können  wir sie ein bisschen aufhellen. Auch wenn das eigentlich nicht so ganz koscher ist, wie sehen die Farben dann deutlicher:
Und diese Farben können wir jetzt mit den Farben auf einem schillernden Ölfleck vergleichen. Hier:
(via HyperPhysics)
Wenn wir annehmen, daß der Ölfilm am Rande des Flecks am dünnsten ist und zur Mitte hin dicker wird, dann können wir die Farbabfolge von außen nach innen mit der Farbfolge im Farbbalken von links nach rechts vergleichen: Erst kommt ein hellgrauer Farbton, der geht ins Beige über, dann Violett, das erst ins Dunkelblaue und dann in ein immer helleres Blau übergeht. Dann kommt so eine Art Senfton, der ins Violette und von da wieder ins Blaue geht. Dann kommt wieder Grün, Violett und wieder Grün und dann etwas Grau. Die berechneten Farbtöne und deren Abfolge passt schon ziemlich gut mit dem Aussehen des Flecks zusammen!

Na gut, eine so große Leistung ist es im Grunde nicht, die Farbabfolge richtig hin zu bekommen. Denn die ist eigentlich immer dieselbe. Ändern sie Brechungsindizes etwas, dann ändert sich die Intensität der Farben und die Zuordnung zur Dicke der Schicht. Die Farbtöne selbst und deren Reihenfolge wird aber  kaum verändert. Die Form der Interferenzmuster bleibt halt immer dieselbe, nur ihre Intensität und Lage  ändern sich. So bekommt man ganz ähnliche Ergebnisse, wenn man den Farbbalken für eine Seifenblase ausrechnet, oder genauer gesagt, für einen dünnen Wasserfilm. Beim Durchschauen gegen diffuses Tageslicht erhält man so ganz zarte Farben:
Im reflektierten Licht vor einem schwarzen Hintergrund sieht man sie deutlich, es gibt wieder den Farbverlauf wie beim Öl:
Oder nehmen wir mal eine dünne Siliciumnitridschicht auf Silicium. Die Farben beim Betrachten dieser Schicht sind in ihrer Abfolge wieder dieselben:
In diesem Fall sorgt der hohe Brechungsindex von Siliciumnitrid für kräftige Farben und einen schnellen Wechsel.
Das Beispiel einer Siliciumnitridschicht auf Silicium ist auch gar nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheint. Man kann durchaus den Wunsch verspüren, Licht in Silicium hinein zu bekommen. Zum Beispiel, wenn das Silicium eine Solarzelle ist. Leider ist Silicium aber relativ stark reflektierend, und so würde ein nennenswerter Anteil des Lichts von der Oberfläche einer Solarzelle einfach wieder nutzlos reflektiert werden, und nicht in sie eindringen, wo fleissige kleine Wichtel dann Ökoelektronen aus dem Licht formen und in die Steckdosen werfen. Um die Leistung einer Solarzelle zu erhöhen, wird sie also mit einer Antireflexionsbeschichtung versehen. Die soll, wie der Name ja nahelegt, die Reflexion von Licht minimieren. Wenn man eine solche Schicht aufbringen will, dann sollte deren Brechungsindex zwischen dem der Luft und des Siliciums liegen, am Besten bei der Wurzel aus dem Brechungsindex von Silicium (sowas verrät einem z.B. die Wikipedia). Der ist ungefähr 4, also sollte man als Beschichtungsmaterial etwas mit einem Brechungsindex um die 2 suchen. Siliciumnitrid hat einen solchen Brechungsindex und ist außerdem noch relativ einfach aufzubringen. Daher eine solche Beschichtung. Die optimale Dicke einer solchen Schicht richtet sich nach der Wellenlänge, für die man die Reflexionsunterdrückung optimieren will. Ideal ist die diese Wellenlänge, geteilt durch 4 mal den Brechungsindex der Schicht (sagt auch Wikipedia). Eine gute Wahl wäre eine Optimierung für eine Wellenlänge von 550 bis 600 Nanometern, dort ist die Sonnenstrahlung auf der Erdoberfläche am stärksten. Daraus folgt eine Schichtdicke von 70 ins 75 Nanometern (d.h. 0.07 bis 0.075 Mikrometern). Guckt man im letzten Farbbalken nach, dann sieht man, daß eine solche Oberfläche tiefblau aussieht. Und damit ergibt sich auch, warum die gemeine Feld-, Wald- und Wiesensolarzelle aus Silicium so schön blau ist, obwohl sie doch aus grauem Silicium gemacht ist.

Will man nun wirklich einmal andere Farbverläufe sehen, dann muß man zu ganz anderen Materialien gehen. Metalle zum Beispiel. Sagen wir mal, Gold. Wir können uns auch mal den Farbbalken für eine dünne Goldschicht auf Glas ansehen. Bei der Draufsicht sieht das so aus:
Da Gold wie alle Metalle Licht sehr stark absorbiert, muß die Schicht sehr dünn sein, damit überhaupt noch was durch kommt. Der Wertebereich der x-Achse ist hier deutlich kleiner als in allen vorherigen Balken. Sehr schnell hat die Schicht nur noch die Goldfarbe. Bei sehr geringen Dicken aber ist die Farbe irgendwo im rötlich-braunen Bereich. Wir können noch mal nachsehen, wie das im Durchgucken im Gegenlicht aussieht:
Wenn die Schicht von außen einfach nur golden aussieht, ist sie von innen pechschwarz. Man blickt einfach nur auf ein Stück Gold, durchscheinen tut da nichts mehr. Solange aber noch was durchscheint, sieht das goldbeschichtete Glas von außen bräunlich aus, von innen aber grün.
Gold- oder anderweitig metallbeschichtete Gläser benutzt man nicht nur in Blogs, sondern auch in der wirklichen Welt, z.B. als thermisches Isolierglas, denn so beschichtete Scheiben sind für Infrorotstrahlung sehr undurchlässig. Und der rotbraune Farbton kommt einem vielleicht von irgendwelchen Hochhausglasfassaden bekannt vor. Der Palast der Republik hatte auch metallbeschichtete, rötlich-braune Fenster. Von innen tendieren Glasscheiben mit einer einfachen Goldbeschichtung aber zum Grünstich beim Rausgucken.

So, das reicht für heute mal. Von Ölflecken über Seifenblasen und Solarzellen zu Thermofenstern, mehr passt in einen Blogpost nicht mehr rein. Wer bis hierhin durchgehalten hat, darf sich zur Belohnung auf meine Kosten ein Gratis-Youtube-Video seiner Wahl anschauen. Wer nicht bis hierhin gekommen ist, sogar ein Kostenpflichtiges!


[1] Ja, das ist jetzt schon ein bisschen frech. Aber leider lässt sie sich nicht in drei Sätzen erklären. Eine rudimentäre Erklärung findet der interessierte Leser in der englischsprachigen Wikipedia. Wer es aber wirklich genau wissen will, der kommt, fürchte ich, nicht umhin, zu einem der einschlägigen Lehrbücher zum Thema zu greifen -  z.B. Knittel: Optics of Thin Films (pdf, siehe Kapitel 2.5).
Das Praktische an dieser Methode ist, daß sie es erlaubt, den reflektierten Anteil und den durchgehenden Anteil des Lichts für beliebige Einfallswinkel und für eine beliebige Anzahl von ebenen Schichten mit beliebigen Brechungsindizes und bei Bedarf auch mit Absorption von Licht in Schichten sehr einfach und schnell auszurechnen. Dazu folgt sie nicht den verschiedenen Strahlen, sondern nutzt geschickt die Randbedingungen aus, die die Maxwellgleichungen dem elektrischen Feld der Lichtwellen an den Grenzflächen aufzwingen. Wer Freude an eleganten mathematischen Lösungen für kompliziert aussehende Probleme hat (oder zumindest ein extravagantes Verständnis des Begriffs "Freude"), der wird daran eine Menge Spass haben!

Sonntag, 27. September 2015

Michels Gespür für Arroganz

Die katalanische Unabhängigkeit, heute kommentiert bei SpOn:
"Gegen wen will Barcelona denn dann Fußball spielen? Gegen Lloret de Mar? Gegen Salou? zum lachen."
Nutzer e.romanczyk

Und schon Schachmatt, liebe Separatisten! Tja, diesen Olivenölbauern in Südeuropa fehlt nun mal einfach dieser Weitblick und der Sinn fürs Wesentliche, der uns Deutschen zu eigen ist. Solche Leute kann man nun wirklich nicht selbst entscheiden lassen, das wäre ja unverantwortlich dem Fußball gegenüber!

"Ein peinliches Volk, die Abspalt-Katalanen... Wer sogar die Waldbrand-Warnhinweise an den Autobahnen nur auf seiner Geheimsprache ausschildert (und so seinen Regionalkomplex über die eigene Sicherheit stellt), dem ist in seiner "Wir haben hier die dicksten Eier"-Macho-Dummheit nicht zu helfen...:) Raus mit so was aus der EU!"
Nutzer mymana1

Auf was für Ideen diese Katalanen so kommen - Straßenschilder in einer Landessprache, die der deutsche Tourist nicht versteht! Wenn die damit durchkommen, was kommt als nächstes? Will Dänemark Beschilderungen auf Dänisch? Hier muß Deutschland den verdammten Nationalisten mal ganz klar machen, was geht in Europa und was nicht. Raus aus unserer EU!

"Leider sind die Spalter-Katalanen genauso arrogant wie der FC Barça und die Ikone Pep Guardiola, dem auch sein Posten in München nicht davon abhält, kräftig für die Unabhängigkeitsbewegung Stimmung zu machen."
Nutzer cheeterno

Stimmt, arrogant sind sie auch noch, diese peinlichen Abspalt-Spalter ohne Verstand und Durchblick! Nicht mal beim FC Bayern (!) konnte der Guardiola ein bisschen was von der typisch deutschen Bescheidenheit und Demut lernen! Was muß der arme Hoeneß Uli enttäuscht sein! Ein widerliches, ein undankbares Volk.

"Ich habe Verstand im Kopf und kann mir nicht vorstellen, wie das sowieso schon nicht gerade wohlhabende Katalonien ausserhalb der EU überleben will. Aber das scheinen die Katalen nicht zu verstehen."
Nutzer Florian29

Gut, wir haben es schon mal gesagt, aber man kann es ja nicht oft genug wiederholen: Diese Katalanen haben - wie ja eigentlich alle diese Südländer - nicht so viel Verstand im Kopf wie wir, sind dafür aber arrogant, überheblich und selbstsicher! Kommt wahrscheinlich daher, daß sie es geschafft haben, so eine Geheimsprache zu erfinden, die wir nicht verstehen können...

"Diese Abspaltungstendenzen sind einfach lachhaft. In Zeiten, in denen Europa eigentlich noch mehr zusammenwachsen sollte, zerfällt es in Kleinstaaterei. Man sollte solchen Leuten die Konsequenzen aufzeigen und sie nach der Abspaltung isolieren."
Nutzer scooby11568

Recht so! Das ist immer noch unsere EU! Und wer da nicht spurt, den machen wir fertig! Das ist ja wohl nur Recht. Manche lernen es eben nur auf die harte Tour, daß unter deutscher Führung kein Platz mehr ist für Nationalismus in Europa! Deutschland muß nun mal seine Verantwortung und seine natürliche Führungsrolle übernehmen, auch wenn uns das nicht angenehm ist. Da müssen wir dafür kämpfen, daß sich die Ukraine, Moldawien und Georgien von Russland emanzipieren können, daß sich Katalonien nicht von Spanien emanzipieren kann und Griechenland nicht mehr länger emanzipiert ist. Das sind schwere Aufgaben für eine bescheidene Nation wie die unsere. Aber wir haben Verstand, aus unserer Geschichte gelernt und zu Hilfe kommt uns Deutschen unser untrügliches Bauchgefühl dafür, was richtig ist und was nicht! Also nur Mut, Landsleute, wir schaffen das!

Samstag, 26. September 2015

Via lliure a la República Catalana

Morgen finden Regionalwahlen in Katalonien statt und für Regionalwahlen irgendwo in Europa haben diese eine beachtliche Wucht: Wenn das überparteiliche Bündnis Junts pel Sí eine absolute Mehrheit erringt, dann will es binnen anderthalb Jahren eine unabhängige Republik Katalonien ausrufen. So begegnen einem auch immer mehr Artikel zum Thema und alle scheinen sich auf die dringendsten Fragen der Deutschen zur Außenpolitik zu konzentrieren: 1) Kann ich da noch Urlaub machen? 2) Was sagen denn die Märkte dazu? 3) Was wird aus dem FC Barcelona? Darüber hinaus gibt es nur noch ordentlich Misstrauen bis Ablehnung angesichts einer "nationalistischen Kleinstaaterei" in Europa, und das war's. Da komme ich doch nicht umhin, auch mal meine Meinung zum Thema auszubreiten, dafür wurde dieses Internet ja schließlich erfunden!

Einigkeit und Recht auf Dumpfheit für das Deutsche Vaterland


Als erstes verwundert mich die geringe deutsche Anteilnahme an den Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien und anderen Regionen in Europa. Deutschland legt so viel Wert auf seine nationale Einheit, besingt sie in seiner Hymne, feiert sie am Nationalfeiertag. Deutschland hat das historische Trauma, ständig in zu vielen, zu kleinen Staaten zu existierten, mit der Einheit 1991 endlich überwunden und scheint nun zu glauben, Europa sei damit fertig. Ist es aber nicht. Andere in Europa leiden am historischen Trauma, ständig in zu wenigen, zu großen Staaten zu leben. Wenn deutsche Kommentatoren den Katalanen hinwerfen, eine Rückkehr zur Kleinstaaterei sei kein Weg, so wie heute in der Welt geschehen [1], dann ist das ungefähr so angemessen, als hätten Katalanen Deutschland 1990 vorgehalten, eine Rückkehr zur Großstaaterei sei kein Weg. Es würde Deutschland gut zu Gesicht stehen, mehr Verständnis für nationale Befindlichkeiten anderer Völker zu zeigen, wo es seine eigenen nationalen Befindlichkeiten stets so wichtig nahm.

Als zweites verwundert mich das undifferenzierte deutsche Bild von Spanien. Wobei, vielleicht ist das gar nicht so verwunderlich. Für den Deutschen war ein Moslem ein Moslem und erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, daß es für Moslems mitunter einen ziemlichen Unterschied bedeuten kann, ob jemand dem sunnitischen oder schiitischen Islam zuzurechnen ist. Mit der Wahrnehmung von Spanien ist es ähnlich: alles Eins - Olivenöl, Paella und Hotelklötze am Meer. Nur richtet sich das Selbstbild anderer Menschen nicht nach der Wahrnehmung deutscher Touristen oder Kolumnisten und Spanier haben eine deutlich differenzierte Selbstwahrnehmung. Spanien hat sich nie als kulturell homogen wahrgenommen, sondern immer aus ein Zusammenschluss von Nationen. Es würde Deutschland gut zu Gesicht stehen, etwas mehr Sensibilität und Differenziertheit in solchen Fragen zu entwickeln.

Parlem Català


Was Spanien angeht, so ist ein Blick in die Spanische Verfassung ein guter Ausgangspunkt für einen differenzierteren Blick. Dort heißt es (Vortitel, Artikel 3), Kastilisch ist die offizielle Staatssprache: El castellano es la lengua española oficial del Estado. Dieser Satz macht zwei Dinge deutlich. Er zeigt, daß das, was wir Spanisch nennen, in Spanien Kastilisch heißt und nur eine der in Spanien gesprochenen Sprachen ist. Und er macht die kastilische Dominanz über ganz Spanien deutlich. Weitere Sprachen gelten in spanischen Regionen als zweite Amtssprache, etwa Galicisch, Baskisch und Katalanisch. Und im Verhältnis von Katalanisch zur kastilischen Sprache kristallisiert sich auch der ganze Konflikt der Katalanen mit dem spanischen Staat.
Die katalanische Sprache ist der Kern der katalanischen Identität und ihre Verwendung richtet sich gegen eine kastilische Dominanz. Tatsächlich wurde das Katalanische bis zum Ende des Franco-Faschismus in Spanien aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Dies hat tiefe Spuren um katalanischen Bewusstsein hinterlassen und es erklärt, weshalb kein Gespräch mit einem katalanischen Separatisten ohne den Hinweis auf die Unterdrückung der katalanischen Sprache aus kommt, etwa kürzlich in der Zeit [2]. Diese Unterdrückung existiert allerdings längst nicht mehr. Katalanisch ist verpflichtende Unterrichtssprache in öffentlichen Kindergärten und Schulen, es gibt katalanischsprachige Fernseh- und Radiostationen und Printmedien, Hollywoodfilme werden katalanisch synchronisiert (obwohl diese Sprache gerade gute 7 Millionen Sprecher hat), Doktorarbeiten in Katalonien erhalten einen finanziellen Zuschuss wenn sie auf katalanisch abgefasst werden und von der Autonomen Region Katalonien finanzierte Veranstaltung müssen auf Katalanisch stattfinden, auch wenn alle Teilnehmer Kastilisch bevorzugen. Von der Unterdrückung ist das Pendel inzwischen umgeschlagen zu einer gesetzlichen Bevorzugung des Katalanischen, die selbst schon in Spannungen mit der spanischen Verfassung gerät, die allen spanischen Bürgern das Recht auf den Gebrauch der kastilischen Sprache zusichert.

Nationalismus auf undeutsch


Man sollte also die Wehklagen der Katalanen über die Unterdrückung ihrer Sprache nicht all zu ernst nehmen, die Sprache und die Rolle, die sie für die Katalanen spielt, dagegen sehr. Aber ist das, was sie und den Separatismus befeuert, ein katalanischer Nationalismus? Technisch betrachtet mag dieser Terminus zutreffen. Allerdings sind die Assoziationen, die man insbesondere als Deutscher mit diesem Begriff verbindet, höchst unangemessen. Die implizierte Selbstüberhöhung des Nationalisten und die aggressive Abwertung des Anderen fehlt dem katalanischen Nationalismus völlig. Ein Nationalgefühl ohne auf andere hinabzublicken, das ist eine sehr undeutsche Angelegenheit. Und doch sind die selbst von Kritikern des katalanischen Separatismus bemerke Weltoffenheit und Zuwendung zu Europa ehrlich gemeint und tief verwurzelt. Selbst im Separatismus zeigt sich noch die Offenheit der Unabhänigkeitsbewegung: Beim Referendum zur Katalanischen Unabhängigkeit 2014 waren alle volljährigen Menschen stimmberechtigt, die mindestens ein Jahr legal in Katalonien gelebt haben. Und das völlig unabhängig von deren Staatsbürgerschaft. Das heißt, Menschen, die in Deutschland nicht einmal über den Bezirksbürgermeister mit abstimmen dürften, waren in Katalonien aufgerufen, mit über die politische Zukunft des Landes zu entscheiden. Selbst unter einer Mitte-Rechts-Regierung herrschen in Katalonien Zustände von einer Liberalität, bei der einem deutschen CDU-Mitglied das Hirn explodieren müsste. Wenn man also von katalanischen Nationalismus spricht, dann nur im Sinne abgeschwächten Sinne des "inklusiven Nationalismus", als Gefühl, eine eigenständige Nation zu sein. Um Missverständnisse zu vermeiden wäre es aber vielleicht besser, den Begriff "Nationalismus" ganz zu vermeiden und einfach von katalanischer Identität und Separatismus zu sprechen.

Ist's arg schlimm?


Vor einem Schreckgespenst Nationalismus muß man sich bei den Katalanen nicht fürchten. Noch viel mehr Schreckgespenster werden allerdings für die Katalanen aufgebaut. So wird immer wieder darauf verwiesen, ein unabhängiges Katalonien sein nicht mehr Mitglied irgendwelcher internationalen Organisationen und müsse bei Null anfangen. Keine Reisefreiheit, Zölle, die Abwanderung von Wirtschaft - der Niedergang sei unvermeidlich. Manche weisen nur auf die Schwierigkeiten hin, andere Kommentatoren wie die von der Welt fordern gar ausdrücklich eine Isolation und wirtschaftliche Zerstörung Kataloniens, sollte es sich von Spanien trennen. Solche Drohungen haben schon in Schottland Wirkung gezeigt und die Bevölkerung eingeschüchtert, sie sind der Versuch, durch die Drohung der wirtschaftlichen und politischen Vernichtung den demokratischen Willen in Teilen Europas zu brechen. Und natürlich wären die Aufgaben im Falle einer Unabhängigkeit Kataloniens gewaltig. Ein wirkliches Problem müssten diese allerdings nicht sein. Die europäische Politik müsste dabei allerdings etwas wirklich Ungeheuerliches, gerade für Deutsche kaum mehr Vorstellbares tun: Sie müsste nicht mehr länger als verbissene Verteidigerin des Status Quo und Vollstreckerin des Unvermeidlichen agieren, sondern die europäische Entwicklung mit gestalten! Die Europäische Union böte ideale Strukturen um all die schwierigen Konsequenzen einer Unabhängigkeitserklärung abzufedern - Freizügigkeit, Rechtssicherheit, Zollfreiheit und was auch immer nötig sein sollte. Würde sich die EU auf ihre eigentlichen Aufgaben - die Förderung von Frieden, Demokratie und Wohlstand in Europa - besinnen, sie müsste im Interesse aller Betroffenen auf die schnellstmögliche Anerkennung und Aufnahme Kataloniens in die EU hinarbeiten. Dagegen wirken die Drohungen eines isolierten neuen Staats wie ein Bademeister, der ruft: Wer quer schwimmt, den lass' ich ersaufen! Leider hat der Fall von Griechenland gezeigt, daß diese EU tatsächlich fähig ist, ein Land ersaufen zu lassen. Ob dies im Ernstfall auch mit Katalonien der Fall wäre, sei allerdings dahingestellt. Zum einen wäre die Isolation eines unabhängiges Katalonien, ein Land, das wirtschaftlich in einer Liga mit Finnland und Irland spielt, Sitz internationaler Organisationen ist und intensiv mit der EU verwoben, auch für die EU schwierig und schmerzhaft. Zum anderen besteht die EU nicht nur aus deutscher Ignoranz und britischer Angst vor einem Referenzfall. Sondern auch aus Estland, Lettland und Litauen, die ihre Unabhängigkeit aus der Sowjetunion durchsetzten. Aus Malta und der Republik Zypern, die erst vor wenigen Jahrzehnten vom Britischen Empire unabhängig wurden. Aus Tschechien und der Slowakei, die sich einvernehmlich trennten, und aus Kroatien und Slowenien, die ihre Unabhängigkeit aus Jugoslawien erkämpften. Kurzum, die EU schliesst viele kleine Staaten ein, die ihre Souveränität vor relativ kurzer Zeit aus größeren Nationen durchsetzen mussten. Vielleicht ist da das Verständnis für den katalanischen Wunsch Unabhängigkeit innerhalb der EU am Ende gar nicht so gering wie es die Welt und die FAZ suggerieren wollen.

Independència?


Bleibt zum Schluß noch ein Wort zur großen Frage: Wird Katalonien innerhalb der nächsten anderthalb Jahre ein neuer Staat in Europa? Nein.

Gut, vielleicht doch noch ein paar Worte mehr. Eine Unabhängigkeit Kataloniens ist schlicht nicht mehrheitsfähig. Dies zeichnete sich bereits mit dem Referendum zur Unabhängigkeit im November 2014 ab, welches durch massiven Druck aus Richtung Madrid zu einer unverbindlichen "Volksbefragung" wurde. Es gelang der Unabhängigkeitsbewegung unter sehr schwierigen Umständen, eine landesweite Abstimmung durchzuführen. Es durften keine Wahlregister verwendet werden, die katalanische Regierung und ihre Organe mußten sich aus der Organisation zurückziehen, die spanische Post weigerte sich sogar, Wahlbenachrichtigungen zuzustellen. Dennoch konnten alle Wahllokale mit freiwilligen Helfern besetzt werden, am Tag vor der Abstimmung hingen in allen Hauseingängen Informationen zum zuständigen Wahllokal, es war einer der vielen Demonstrationen der beeindruckenden Organisation und Entschlossenheit der Separatisten. Und es war von Anfang an klar, daß diejenigen, die unter diesen Umständen an der Befragung teilnehmen würden, sich mit großer Mehrheit für eine Unabhängigkeit aussprechen würden. Die bedeutendere Frage sollte die nach der Wahlbeteiligung sein - wie viele Menschen können für eine Abstimmung über eine Unabhängigkeit mobilisiert werden? Am Ende stimmten dann auch gut 80% der Teilnehmer für eine vollständige Unabhängigkeit Kataloniens, was als großes Symbol verkauft wurde. Dabei lang die Wahlbeteiligung bei gerade mal einem Drittel der Stimmberechtigten (eine exakte Zahl ist wegen der fehlenden Wählerverzeichnisse nicht verfügbar). Und dies ist eine krachende Niederlage für die Separatisten. Von mindestens 5,5 Millionen stimmberechtigten Bürgern konnten sie gerade einmal 1,9 Millionen Stimmen für eine Unabhängigkeit einsammeln, und es ist sehr zweifelhaft, daß unter den Nichtwählern eine Mehrheit eine Unabhängigkeit unterstützt.

Neben der Volksbefragung 2014 demonstriert die Unabhängigkeitsbewegung ihre Stärke am katalanischen Nationalfeiertag, dem Diada am 11. September. Dort schafft sie es nicht nur, gewaltige Menschenmassen auf die Strasse zu bringen, sondern beeindruckt mit Großaktionen. 2013 organisierte sie eine 400 km lange Menschenkette mit 1,6 Millionen Teilnehmern quer durch Katalonien. 2014 brachte sie 1,8 Millionen Menschen in die Strassen Barcelonas und ließ diese durch verschiedenfarbige Kleidung die katalanische Flagge in V-Form durch die Strassen formen. 2015 sollte laut Organisatoren ein neuer Höhepunkt werden und ein Fanal vor der Regionalwahl. Die Avinguda Meridiana, eine Verkehrsachse Barcelonas, wurde von einer weiß gekleideten Menschenmasse erfüllt, die mit Pappschildern eine Choreographie aus farbigen Wellen aufführte. Und auch wenn so beeindruckende Bilder zustande kamen, das Ziel der Veranstalter wurde verfehlt. Mit 1,4 Millionen Teilnehmern kamen nicht mehr, sondern deutlich weniger Teilnehmer als im Vorjahr zur Veranstaltung.
Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung konnte 2014 also bis zu 1,8 Millionen Menschen auf die Straße bringen und 1,9 Millionen Stimmen einsammeln. Damit scheint sie ihr Potential aber bereits voll ausgeschöpft zu haben. Aufbauen konnte sie darauf seitdem nicht weiter. Es scheint einen harten und bestens organisierten Kern von vielleicht 2 Millionen Menschen zu geben, die die Unabhängigkeit durchsetzten wollen. Von einer absoluten Mehrheit unter den 5,5 Millionen Wahlberechtigten sind sie damit aber deutlich entfernt. Deshalb glaube ich es auch nicht, daß Junts pel Sí in der Regionalwahl morgen eine absolute Mehrheit der Stimmet und damit die selbstgeforderte Legitimation erhält, ein unabhängiges Katalonien auszurufen. Und ich finde das auch kein kleinen bisschen schade. Eine Unabhängigkeitserklärung Kataloniens würde Europa kräftig durcheinander wirbeln. Und in diesen sedierten, bleiernen Zeiten ist fast alles, was durcheinander wirbelt, gut.

Der Präsident der autonomen Region Katalonien, Artur Mas, mag ein Typ Politiker sein, für den man keinerlei Sympathie aufbringen will und muß. Aber gestern formulierte er treffsicher. Die Frage nach der Unabhängigkeit Kataloniens werde nicht von den Märkten und nicht von der Nationalbank entschieden. Sie werde nicht von Obama und nicht nicht von Merkel und nicht vom spanischen Präsidenten Rajoy entschieden. Diese Frage werde morgen alleine vom katalanischen Volk entschieden. In diesem Sinne:

So if you meet me
Have some courtesy
Have some sympathy,
and some taste.
Woo woo!

Sonntag, 13. September 2015

Alte Hüpfer in neuen Schläuchen

Ach ja… Die Geschichte der Raumfahrt ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Das liegt wohl auch daran, daß es so wenigen Journalistinnen wichtig ist, dafür zu sprechen. So bleibt die Raumfahrt im Zuständigkeitsbereich des Wissenschaftsjournalismus, und das ist eigentlich gar kein Journalismus sondern PR im redaktionellen Teil.
Es kommt etwa vor, daß die NASA in einer Pressemitteilung Prototypen eines Landeroboters vorstellt, der auf der Oberfläche von Asteroiden oder Kometen herumhüpfen können soll. Der deutsche Wissenschaftsjournalismus greift eine Meldung mit exotischem Klang und von der NASA natürlich sofort auf - sowohl in seriösen Medien wie Spektrum.de als auch in unseriösen wie Focus Online. Was allerdings komplett fehlt ist irgendwelche Information, die über den Inhalt der NASA-Pressemitteilung hinaus ginge. Das wäre aber durchaus interessant und - hey: das wäre dann auch wirklich richtiger Journalismus!

Die Idee, hüpfende Landeroboter zu bauen ist nämlich weder besonders neu noch auf dem Mist der NASA gewachsen. Den Gedanken, daß auf Himmelskörpern mit sehr geringer Schwerkraft Hüpfen eine geeignete Fortbewegungsmethode wäre, stammt aus der Sowjetunion. Dort wurde in den 1980er Jahren ein hüpfendes Landegerät namens PrOP-F entwickelt und 1988 an Bord der Mission Phobos 2 zum kleinen Marsmond Phobos geschickt. 1989 hätte es dort herumhüpfen sollen, nur ging leider aufgrund eines Computerproblems der Kontakt zur Muttersonde verloren und der hüpfende Lander kam nie zum Einsatz.
Die japanische Weltraumagentur JAXA zog nach und entwickelte einen hüpfenden Lander names MINERVA. Der war erheblich kleiner als das sowjetische Model und der Antriebsmechanismus wurde von Armen und Federn hin zu Schwungrädern im Innern des Geräts modifiziert. Die Muttersonde Hayabusa brachte den kleinen springenden MINERVA-Lander zum Asteroiden Itokawa, wo er 2005 abgesetzt wurde. Leider ging das Landemanöver im wahrsten Sinne des Wortes daneben, der Lander verschwand in den Tiefen des Alls und verpasste ebenfalls seinen Einsatz.
Die Idee des Herumhüpfens ist damit aber noch nicht gestorben, sondern ein weiteres Land stieg in die Entwicklung ein: Die japanische Nachfolgemission Hayabusa 2 hat u.a. eine im wesentlichen in Deutschland entwickelte hüpffähige Landeeinheit namens Mascot dabei. Die ist 2014 gestartet und z.Z. auf dem Weg zum Zielasteroiden. Hoffentlich wird diesmal das Glück etwas gewogener sein.

Nachdem also die Sowjetunion, Japan und Deutschland hüpfende Landeroboter entwickelt und in den Einsatz geschickt hat, hat die NASA Prototypen eines eigenen Models vorgestellt. Das diese dabei nicht großartig auf Aktivitäten von anderer Seite hinweist ist ja nachvollziehbar. Wenn aber Journalisten die NASA-Verlautbarungen einfach nur abschreiben und als "die neueste Errungenschaft der US-Raumfahrtbehörde NASA" in den Raum stellen, dann ist das schon ein bisschen traurig. Aber wie gesagt, eigentlich ist Wissenschaftsjournalismus ja auch gar kein Journalismus, sondern bloß das Abschreiben von Presseverlautbarungen...

Donnerstag, 3. September 2015

Der Tod und das Bild

"Der Tod eines einzelnen ist eine Tragödie, der Tod von Millionen Statistik."
Josef Stalin

Heute geht mir ständig das Bild The Terror of War im Kopf herum: Ein kleines Mädchen läuft nackt, schwer verletzt und unter Schock mit ausgebreiteten Armen auf den Photographen Nick Út zu, als es vor einem Brandbombenangriff der US-Armee auf ihr Heimatdorf in Vietnam flieht.
Die Veröffentlichung des Photos war 1972 wegen der Nacktheit des Mädchens durchaus umstritten. Trotzdem entschied sich AP damals für die Veröffentlichung weil die Aussage des Bildes alle Bedenken überwiegen würde. Es wurde Weltpressephoto des Jahres 1972, gewann den Pulitzer-Preis 1973 und wurde das bekannteste Anti-Kriegs-Photo der Welt.
Dabei ist das Bild zugleich die größtmögliche Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Kindes: Eine Minderjährige wird nackt, verletzt und in einem völlig hilflosen Zustand mit Gesicht und namentlich der ganzen Welt gezeigt.
Der Photograph Út wird zitiert mit der Aussage: "When I presset the button, I knew: This picture will stop the war". Das hat es vielleicht nicht unmittelbar getan, aber es hat dazu beigetragen. Denn es zeigte, was sich hinter den Pressemitteilungen verbirgt, die wir auch heute noch ständig hören und die uns nicht im mindesten berühren: Bei dem Luftangriff sollen auch Zivilisten getötet worden sein, darunter mehrere Kinder. Das Bild zeigt direkt das dahinter stehende, unermessliche Leid, das diejenigen zu tragen haben, die nichts weiter getan haben als am falschen Ort zur Welt zu kommen.

Daran muß ich denken angesichts der Diskussion, ob denn Medien die Bilder von ersticken Flüchtlingen in einem Lastwagen oder von einem ertrunkenen Kind am Strand zeigen dürfen oder ob sie damit die Würde der Toten verletzen. Sie dürfen sie zeigen, sie müssen sie sogar zeigen! Denn ob mag einem nun passt oder nicht, die aktuellen Zahlen von erstickten oder ertrunkenen Flüchtlingen berühren uns nicht sehr. Menschlichkeit ist eine emotionale Angelegenheit, und Emotionen werden nun einmal schlecht durch Zahlen angeregt. Sieht man hingegen, wie die Leiche eines kleinen Kindes vom Strand aufgelesen wird, dann begreift man vielleicht, was es heißt, wenn wieder einmal hunderte Menschen, darunter auch Kinder, im Meer ertrunken seien weil sie nach Europa wollten. Es heißt, daß irgendwo wieder Polizisten oder Feuerwehrleute kleine Leichen in Turnschuhen und T-Shirt aus dem Meer ziehen und in Zinksärge legen müssen. Vielleicht begreift man dann eher, daß es nicht mehr so weiter gehen kann. Und an den Zuständen, die Tausenden den Tod bringen, für die sind wir mit verantwortlich.
Will man hier die Würde der Toten durch Nichtveröffentlichung der Bilder schützen, dann hilft man mit, eine menschliche Katastrophe in einer bequemen Verdrängung zu halten, irgendwo versteckt hinter abstrakten Zahlen. Und man gefährdet damit etwas wichtigeres als die Würde der Toten: Das Leben der Lebenden.

Sonntag, 30. August 2015

ADHS an der Heimatfront

Was es alles gibt! Zum Beispiel einen Meinungsartikel in der Welt, der recht hat! Also, zur Hälfte wenigstens. Sascha Lehnartz beklagt heute in einem Text, daß Medien und Öffentlichkeit in Hinblick auf die Ukrainekrise von einem Aufmerksamkeitsdefizit befallen seinen und die sich in der Ukraine entwickelnde Flüchtlingskatastrophe übersähen. Gut, seine Zahlen stimmen dann schon nicht mehr so ganz genau, es geht nicht um 1,4 Mio. Binnenflüchtlinge und 0,6 Mio. ukrainische Flüchtlinge in Russland, sondern nach letztem Stand vom 3. August um 1,4 Mio. Binnenflüchtlinge, 0,76 Mio. Flüchtlinge in Russland, 82 000 Flüchtlinge in Weissrussland, 64 000 Flüchtlinge in Polen und etliche Tausend "Sonstige". Aber gut. Schließlich kommt Herr Lehnartz zu einem erwartbaren Fazit: der Westen müsse den Kampf der Ukraine um ihre Freiheit unterstützen.

Aber das mit dem Aufmerksamkeitsdefizit, das stimmt! So erklärt sich zumindest, daß Medien und Öffentlichkeit in Deutschland einen schon mehrere Monate alten und sehr interessanten Text offenbar gar nicht wahrgenommen haben. Man sollte ihm aber etwas Aufmerksamkeit widmen. Es geht um eine zweiteilige Analyse der International Crisis Group zur Lage in der Ukraine. Die International Crisis Group ist eine Denkfabrik, und zwar eine ziemlich hochrangig aufgestellte, die des Kapitalverbrechens unserer Tage, der Putinversteherei, gänzlich unverdächtig ist. Schon ein kurzer Blick in das Who-is-who zeigt, das Personal dieser Institution ist durchzogen von ehemaligen NATO-Generälen, Bankern und ex-EU-Politikern. Die Crisis Group ruht also sicher auf dem Fundament unserer "Westlichen Werte" und lässt keinen Zweifel daran, wer die Guten sind (wir!) und der die Bösen (der Iwan!). Trotzdem lohnt sich im Allgemeinen die Lektüre ihrer Analysen. Denn anders als so manch anderer Denker analysieren sie nicht, um die eigene Überzeugung zu rechtfertigen, sondern um einen nüchternen Überblick über die Lage zu gewinnen. Und der Überblick auf die Ukraine führt sie zu unerwarteten Erkenntnissen, die, pointiert formuliert, auf den Satz hinauslaufen:
Der Westen in Form der Regierung in Kiew und ihrer Unterstützer in EU und NATO haben den Konflikt um die Ukraine bereits verloren.
Und daraus zieht die Analysten der International Crisis Group auch die nahe liegende Schlussfolgerung:
Um weitere Zerstörung und Opfer zu vermeiden und die Gefahr einer überregionalen Eskalation des Krieges zu bannen, muß der Westen sich zurückziehen unter Minimalbedingungen, die es ihm erlauben, das Gesicht möglichst zu wahren.
Ganz so klar wird das in den Berichten natürlich nicht auf den Punkt gebracht. Ich versuche mal, die entscheidenden Stellen aus den beiden Analysen dezent kommentiert darzustellen. Das sollte aber niemanden davon abhalten, selbst die Originaltexte, Statement on the Ukraine Crisis and European Stability und The Ukraine Crisis: Risks of Renewed Military Conflict after Minsk II vom 1. April 2015, zu lesen. Also los:

Ein militärischer Sieg über die Aufständischen aus den Volksrepubliken Donetzk und Lugansk sei nicht mehr möglich. Diese Einschätzung beruht auf der Einsicht, daß sich die ukrainische Armee seit Beginn der Kämpfe als sehr wenig schlagkräftig erwiesen hat. Den Grund dafür sieht die ICG ausschließlich in der Führungsebene der Armee, die inkompetent, korrupt und im allgemeinen kriegsunwillig sei. Es seien vom ukrainischen Präsidenten keinerlei Maßnahmen getroffen worden, um diesem Problem beizukommen, und so hätte es seit über einem Jahr keine Verbesserung der Lage in der ukrainischen Armee gegeben. Die Bürgerwehren in der Ostukraine hingegen hätten sich, durch Unterstützung Russlands, seit Beginn der Kämpfe ganz erheblich professionalisiert und besser organisiert und seien im Begriff, sich zu einer funktionierenden regulären Armee zu entwickeln. Wenn also bisher keine militärischen Erfolge gegen die Volksrepubliken möglich waren, so sei auch in absehbarer Zukunft nicht mehr damit zu rechnen.
"Ukraine’s army is enmeshed in a command crisis the country’s leaders seem unwilling to admit or address. For the separatist rebels, the command and control Moscow provides could give them the advantage in any new fighting."
Auch eine weitere Aufrüstung der ukrainischen Armee durch die NATO würde keine Aussichten auf Erfolg mit sich bringen. In der gegenwärtigen Lage könnte eine bessere Bewaffnung der ukrainischen Armee von Russland durch eine bessere Bewaffnung der Bürgerwehren in der Ostukraine gekontert werden. Die Kampfhandlungen würden sich intensivieren ohne daß die ukrainische Armee einen kriegsentscheidenden Vorteil gewinnen würde.
"It is not probable that military aid would shift the balance of force meaningfully, except in limited tactical situations, given the weakness of the Ukrainian army and the resources upon which Russia can draw."
Zuletzt stünden Russland zudem mehr militärischen Optionen offen als dem Westen. Und tatsächlich könnte Russland ja tun wovor die Regierung in Kiew immer warnt und in die Ukraine einmarschieren. Und sofern NATO-Länder Russland nicht den Krieg erklären wollen, könnten sie militärisch nichts dagegen tun.
"For the short term, though, Russia holds a strong hand. Its capacity to absorb suffering, both economic and in terms of casualties, may be unclear, but its readiness to escalate militarily in Ukraine – where multiple Russian interests are engaged -- to a level beyond that to which any prudent Western government should go is not."
In einer solchen Lage, in der man keine Aussicht auf einen militärischen Sieg hat, sei es angezeigt, auf ein sofortiges Ende der Kämpfe hinzuarbeiten, selbst wenn der Westen dadurch eine de-facto-Unabhängigkeit des Ostens der Ukraine in Kauf nehmen müsste.
"the first imperative must be to slow the pace of the crisis and halt the fighting in eastern Ukraine – not least in the interests of the conflict’s mounting number of victims – even if that includes an initial risk of extensive, possibly undefined, de facto local autonomy."
Es sei unbedingt notwendig, den Konflikt von einer militärischen auf eine politische Ebene zu bringen. Auch die Idee einer zukünftigen NATO-Mitgliedschaft der Ukraine müsse dazu aufgegeben werden.
"On Ukraine’s geostrategic position, NATO could state explicitly that Ukraine would not become a member"
In Verhandlungen über die Zukunft der Ukraine könne dann alles angefallene Material, Sanktionen, der Status der Krim, etc., in die Verhandlungsmasse eingehen.
Auch was einen Wirtschaftskrieg mit Russland angeht, so gibt die Analyse der ICG eine Absage. Russland sei wirtschaftlich zu groß und zu intensiv mit westlichen Ländern verbunden, als daß harte wirtschaftliche Sanktionen in ihren Auswirkungen kontrollierbar bleiben würden.
"Sanctions that punish the Russian people would likely reinforce nationalist sentiment and be counter-productive. If additional more severe, even radical measures have to be considered, the risks that such regimes entail should not be ignored: the most serious possible economic and financial sanctions could dangerously weaken the structures of the Russian state and lead to the implosion of the Russian economy, with unpredictable consequences (including for the European banking system). Russia, unlike less powerful states under comprehensive sanctions regimes, has the means to retaliate in a calibrated and dangerous way."
Vielleicht ist also die immer wieder unversöhnlich diskutierte Frage, wie gut wir Guten tatsächlich sind und wie böse der Russe doch ist, wenn er dem freiheitsliebenden ukrainischen Volk mit Waffengewalt seinen sehnlichen Wunsch nach einer Mitgliedschaft in einem friedlichen westlichen Militärbündnis verweigert, inzwischen irrelevant gegen die Frage, was sich denn nüchtern betrachtet aus der aktuellen Situation noch heraus holen läßt. Wenn das nicht mehr viel ist, dann bleibt nur der berühmte geordnete Rückzug aus einer hoffnungslosen Lage. Von Politikern ist solch eine Einsicht nicht unbedingt zu erwarten. Was ein echter Machtpolitiker ist, so läßt dieser lieber auch eine Million Menschen in den sinnlosen Untergang gehen als zuzugeben, daß er falsch lag. Druck müsste von der Öffentlichkeit kommen. Doch die "Qualitätsmedien" haben sich von Anfang an ihrer nobelsten Aufgabe, unsere eigene Politik kritisch zu hinterfragen, konsequent verweigert. Stattdessen rufen sie weiter zur Unterstützung des Kampfes der Ukraine gegen Russland auf wie heute in der Welt. Oder sie verklären den blutigen Krieg zu einem Prozess des "erwachsen Werdens" wie vor ein paar Tagen. Die Medien scheinen sich entschlossen zu haben, bis zum Ende den propagandistischen Takt zu Trommeln für den Marsch in die Katastrophe...

Samstag, 29. August 2015

Schöne Begriffe, die man häufiger verwenden sollte

  Heute:
"Explosions-Pufftrockung"

"Bei der sogenannten Explosions-Pufftrocknung wird stückiges Gut (z.B. Karotten, Kartoffeln, Apfelscheiben, Blaubeeren) zunächst auf konventionellem Wege auf 20 bis 30% WG je nach Art des Gutes vorgetrocknet, dann in einer abgeschlossenen Kammer mit überhitztem Dampf unter einem Überdruck von 2 bis 4 bar erhitzt, worauf eine explosionsartige Entspannung auf Atmosphärendruck folgt. Die Verdampfungswärme wird dem Gut entzogen, die Dampfbildung führt durch Vergrößerung des rekonstruierbaren Volumens zu einer Auflockerung des Gewebes ohne Gefügezerstörung, die derjenigen bei der Gefriertrocknung nahekommt. Die Rekonstitutionszeit kann auf diese Weise auf 1/4 verkürzt werden. Bei der Nachtrockung schrumpft das Gut nur noch wenig."
R. Heiss & K. Eichner: Haltbarmachen von Lebensmitteln:
Chemische, physikalische und mikrobiologische
Grundlagen der Verfahren. Springer Verlag, 1990

Mittwoch, 12. August 2015

Jenseits der Lügen, diesseits der Oder

"Man kann bei Arendt lernen, dass demokratische Gesellschaften einer doppelten Gefahr ausgesetzt sind: Die eine ist die systematische Verwischung des Unterschieds von Wahrheit und Lüge, die andere liegt in der Versuchung Augen und Ohren vor unbequemen Wahrheiten zu schließen. Beides trifft für den Konflikt um die Ukraine zu."
Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich Böll Stiftung,

Es wird ermüdend, das Ringen um die "Wahrheit", um die richtige Interpretation der Vorgänge in der Ukraine. Organisationen wie Bellingcat oder stopfake.org schütten einen förmlich zu mit Bergen an Informationen darüber, welches Video von welchem angeblichen Granatangriff nun echt oder manipuliert sei, welches Foto von welcher Rauchsäule nun wo aufgenommen wurde und immer so fort. Gibt es noch jemanden, der diesen ganzen Meldungen noch folgen kann? Dabei droht der wesentliche, übergeordnete Aspekt ganz verloren zu gehen: Die systematische Verwischung des Unterschieds von Wahrheit und Lüge und das Verschließen vor unbequemen Wahrheiten.

Heute boten die 6vor9 beim Bildblog einen Verweis auf Interview mit einem Verantwortlichen eines Lokalsenders, der eine Sendung von Russia Today ausgestrahlt. In diesem Interview wird er mit folgender Behauptung konfrontiert:

Stopfake hat Russia Today schon in vielen Fällen Falschberichterstattung nachgewiesen.

Es behaupten ja immer alle, dass es dauernd Falschmeldungen gebe. Aber können Sie mir auch ein Beispiel nennen?

Der Sender hat behauptet, dass ukrainische Flüchtlinge in Scharen nach Russland strömen. Das war definitiv eine Falschmeldung.

Definitiv eine Falschmeldung? Dann gibt es die ukrainischen Flüchtlingsströme nach Russland gar nicht? Oder vielleicht doch? Sucht man bei Stopfake, dann findet man einen Bericht vom März 2014 [1]. Darin heißt es:
"Federal Migration Service of Russian Federation has denied reports of the Russian state media about mass number of refugees from Ukraine who want to obtain Russian citizenship.
[…]
'Since beginning of 2014 82 Ukrainian citizens have asked for refugee status from Federal Migration Service of Russian Federation. Figure of 143,000 people, which was mentioned in the media is the number of Ukrainian citizens who have entered the territory of Russia for the last two weeks, '- the report says."
Es sieht also nach einem Mißverständis aus: 143 000 Ukrainer sind nach Russland eingereist, russische Medien haben sie zu "Flüchtlingen" erklärt, die die russische Staatsbürgerschaft wollten - das ist verwirrend und unzutreffend.

Aber gibt es nun ukrainische Flüchtlingsströme oder nicht? Wenn man schon nicht weiß, wem man was glauben soll, dann könnte man sich ja mal an die Vereinten Nationen halten, d.h., an das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Das gibt seit Juli 2014 in dichter Folge Statusberichte zur Lage von Flüchtlingen in und aus der Ukraine heraus, und diese Berichte sind ziemlich detailliert. Ich habe mal Flüchtlingszahlen herausgesucht und in ein Diagramm eingetragen, dann muß man sich nicht mehr durch alle Berichte wühlen:
Die Kurven geben die Anzahl der registrierten Flüchtlinge an, "interne Flüchtlinge" meint Binnenflüchtlinge innerhalb der Ukraine, "externe Flüchtlinge" solche in anderen Ländern. Der Löwenanteil der externen Flüchtlinge entfällt auf Russland (letzter Stand: 756 600), mit großem Abstand folgt Weißrussland (letzter Stand: 81 600). "Registriert" sind Flüchtlinge, wenn sie sich irgendwo um einen offiziellen Status bemüht haben, d.h. offiziell um Asyl gesucht, eine neue Staatsbürgerschaft beantragt, etc.

Und damit ist die Frage eindeutig beantwortet: Ja, es gibt eine ukrainische Flüchtlingswelle. Und diese Welle ist von gewaltigen Ausmaßen: Bisher sind 2.3 Millionen Ukrainer, das sind gute 5% der gesamten ukrainischen Bevölkerung, aus ihrem Heimatort geflohen.
Und die Berichte des UNHCR bieten auch eine nähere Erklärung für die Verwirrung um die Zahl von Flüchtlingen bzw. nach Russland eingereisten Ukrainern im März 2014: Ukrainische Bürger können visumfrei nach Russland einreisen und sich dort bis zu 270 Tage legal aufhalten [2]. Somit hatten Ukrainer im März 2014 keine Eile, einen Asylantrag oder einen anderen Status in Russland zu beantragen. Und womöglich war auch die Hoffnung groß, schnell wieder nach hause zurückkehren zu können. Insofern ist es nicht überraschend, das zu einer so frühen Zeit die Zahl der "offiziellen" Flüchtlinge in Russland so viel niedriger ist als Zahl der "eingereisten Ukrainer", die ja doch Flüchtlinge sind, nur eben auf eigene Faust.

Und damit sind wir wieder beim grundlegenden Problem - dem Verwischen von Wahrheit und Lüge und dem ignorieren unbequemer Wahrheiten:
In einem aktuellen Interview berufen sich deutsche Journalisten auf veraltete Berichte, wonach russische Medienberichte Lüge wären. Sie erwecken so den Eindruck, es gäbe die ukrainischen Flüchtlinge in Russland gar nicht. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, sich ein von westlichen und russischen Medien unabhängiges und aktuelles Bild der Lage zu bilden [3]. Dabei hätte sich gezeigt, daß die Berichte der russischen Medien ungenau und missverständlich gewesen sein mögen, letztlich aber ein tatsächliches Phänomen geschrieben haben. So aber wird hier die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verwischt. In einer an sich ziemlich klaren Situation wird Unsicherheit darüber verbreitet, was stimmt und was nicht. Und an dieser Stelle sind es nicht Russland oder die russischen Medien, die Verwirrung säen. Deutsche Medien schaffen das ganz alleine.

Und was sonst noch bleibt ist die Verwunderung, wie eine so gewaltige Flüchtlingskatastrophe wie in der Ukraine, unmittelbar vor der Haustür der EU, öffentlich fast gar nicht wahrgenommen werden kann. Womöglich ist das Ausmaß der Katastrophe in der Ukraine so groß, daß die deutsche Öffentlichkeit, würde sie ihrer gewahr werden, aller offiziellen Schuldzuweisungen an Russland zum Trotz nicht länger dem harten Kurs der EU/NATO folgen würde?
Auf jeden Fall werden hier die Augen vor einer unbequemen Wahrheit verschlossen. Das war es allerdings nicht, was der Herr Fücks von den Grünen in seinem Eingangszitat meinte. Er meinte, wir würden bereits nicht mehr wahrhaben wollen, wie böse Russland und Putin doch sind. Auf die Idee, Hannah Arendt Lektionen einmal gegen sich selbst zu wenden, darauf käme der nie!
"This boy has lived in a bomb shelter for around a year. In total, there are
 around 20 children who live in this bomb shelters in Petrovskiy, near
 the coal mines in Donetsk."  Photo: UNHCR, Petr Shelomovskuy  

[1] Es gibt noch einige einzelne Berichte, die die Meldungen russischer Medien anzweifeln, alle stammen von vor den Berichten des UNHCR und sie beziehen sich auf wenig interessante Einzelfälle, etwa Bildmaterial von einem falsch angegebenen Grenzübergang oder Zweifel an der Integrität von Zeugen.

[2] Offiziell sieht sich die Ukraine im Krieg gegen eine russische Invasion und die EU unterstützt die Ukraine in diesem Kampf. Und doch können Ukrainer visumfrei in das Feindesland Russland einreisen, nicht aber zu ihren Freunden in die EU. Krieg führen war auch schon mal übersichtlicher...

[3] Die Angaben zu externen Flüchtlingen des UNHCR berufen sich auf offizielle Meldungen der jeweiligen Länder, d.h. auch auf die russische Regierung.