Der einzelne Mensch hatte es ja noch nie besonders leicht. Da ist zum einen die Natur, die ihm mit Seuchen, Tsunamis und Vulkanasche das Leben zu versauern sucht. Und dann sind da noch die Mitmenschen, die mit Kriegen, Ausbeutung und Werbespots für Slipeinlagen den Rest eines Lebens in Würde zu ruinieren trachten. Und irgendwo dazwischen muß man seinen Platz finden. Nur vordergründig ist die Sitation im heutigen Mitteleuropa besser geworden als noch im letzten Jahrhundert, mit den selteneren Kriegen und Tsunamis. Denn tatsächlich zwingt die moderne, oder besser post-moderne, Gesellschaft den Menschen in so viele Widersprüche, wie noch niemals irgendein System zuvor. Zum Beispiel müssen wir Karriere machen, uns um die Familie kümmern, und uns dabei auch noch selbst verwirklichen. Von Hernán Cortés beispielsweise erwartete man, daß er mit Härte, Entschlossenheit und List Mexiko eroberte, mit eintausend Spaniern dreihunderttausend indianische Krieger besiegte und alle Beteidigten reich machte. Sicherlich keine leichte Aufgabe, aber er schlug sich ja gar nicht schlecht. Aber immerhin wurde von ihm nicht auch noch verlangt, daß er nach der Schlacht noch drei Stunden mit seinen Kindern spielte und danach den Abwasch erledigte.
Aber betrachten wir lieber einen anderen Widerspruch des heutigen Lebens, den des sich-für-etwas-Besseres-halten. Heute ist es ja politisch und gesellschaftlich zutiefst verpönt, sich für etwas Besseres als seine Mitmenschen zu halten. Das war wohl auch nicht immer schon so. Als Adliger oder Pfaffe konnte man dem Pöbel ruhig sagen, daß er doof sei, das Maul halten solle und einfach nur zu arbeiten, kämpfen oder zu beten hätte. Je nachdem, was gerade gefordert war. Aber heute leben wir in einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft, an der alle partizipieren dürfen. Da gehört es sich nicht, sich für etwas Besseres zu halten, pfui. Gut, das könnte man akzeptieren, würde es einem die Gesellschaft nicht so furchtbar, furchtbar leicht machen, sich für etwas Besonderes zu halten! Das fängt ja schon vor der Haustür an. In der U-Bahn hört man Dialoge wie etwa "Eh Alta, ma' ma' Platz!" 'Ey, fick Dich!", in den Zeitungen liest man Schlagzeilen wie "Verfassungsgericht macht Weg für Griechen-Hilfe frei" (Bild) oder "SPD streikt bei Griechen-Hilfe" (Spiegel). Da kommt man sich schon schnell besonders vor, wenn man Sätze mit mehr als zehn Wörtern zu bilden vermag!
Aber das ist ja noch lange nicht alles! Längst werden wir professionell mit dem Eindruck versorgt, besonders zu sein. Im Fernsehen werden wir mit Preisfragen beglückt wie: "Gewinnen sie eine Reise mit Pupsiprodukte zu Rock am Ring! Beantworten Sie nur die folgende Frage: Wo steht das Pupsiprodukte-Village? a) Bei Rock am Ring b) Irgendwo im Sauerland"
Hm, tja, puh... Ich würde mal sagen... Da nehme ich doch den 50-50-Joker!
Und dann die ganzen Intelligenztests im Internet! Wahnsinn, wie klug ich doch bin! Einer hat mir sogar mal einen IQ von ganzen 164 Punkten bescheinigt! Und wenn ich die ganze Fülle meiner IQ-Punkte mal zusammen nehme und nachdenke: Normiert ist die IQ-Verteilung auf einen Mittelwert von 100 Punkte und eine Standardabweichung von 15 Punkten. Das bedeutet, ich liege mehr als vier Standardabweichungen über dem Mittelwert! Wow, bloß... wie um alles in der Welt haben sie es nur geschafft, den Test bis so weit nach draußen in der Verteilungskurve zu normieren?? Aber wenn man wirklich hartnäckig an der Aussagekraft der Testergebnisse zu zweifeln entschlossen ist (besser, man freut sich und denkt nicht weiter darüber nach!), dann kann man ja eines der Ich-bin-hochbegabt-Ratgeberbücher erwerben (das sollte man aber nicht in seiner Standardbuchhandlung kaufen, sonst denken die dort, man glaube etwas Besseres zu sein!). Dann findet man die Antworten, nach denen man sucht. Sie kapieren nichts? Klar, sie sind ja unterfordert! Sie glauben, sie kapieren sofort alles? Klar, sie sind ja hochbegabt! Irgendwas findet sich da für jeden.
Also leben wir alle in dieser Zwickmühle, etwas Besseres zu sein, und es niemanden merken lassen zu dürfen. Und das ist eine Schande, denn es ist ja gar nicht auszudenken, wieviel großartige Literatur wohl geschrieben wird, die aber dann aus Scham in der Schublade bleibt. Wieviel wundervolle Musik wohl komponiert wird, die aber verheimlicht wird, um nicht anmaßend zu wirken. Wieviele tollen Texte großer Geister wohl geschrieben, aber nie veröffentlicht werden...! Wobei, jetzt, wo ich diesen Beitrag vor dem "Veröffentlichen"-Klick nochmal selber durchlese... vieleicht ist es ja doch ganz gut so, wie es ist?
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