Montag, 24. Mai 2010

Fragen an den gläubigen Atheisten

Nach dem letzten kurzen und doch etwas emotionalen Post fühle ich mich veranlasst, noch ein paar sachlichere Argumente für meine Ablehnung des "gläubigen Atheismus" nachzureichen. Dabei geht es gerade um die Überschätzung der Wissenschaften, und insbesondere um das Problem, ob es Fragen gibt, die mit wissenschaftlichen Methoden nicht beantwortbar sind, und deren Beantwortung aber dennoch von Interesse für den Menschen ist.
Auf die Frage, ob es Probleme jenseits der wissenschaftlichen Beantwortbarkeit gibt, findet sich eine schnelle Antwort. Tatsächlich kann man mit gutem Grund annehmen, daß man Fragen jenseits der verwendeten Sprache, also etwa der Sprache der Physik, nicht sinnvoll stellen kann. Die Frage, ob es Elektronen wirklich gibt, ist eine solche Frage. Innerhalb der physikalischen Theorie kann man sinnvoll über Elektronen reden, und so kann man etwa Fragen nach ihren physikalischen Eigenschaften, etwa den Spin, sinnvoll diskutieren. Ob es sie aber in irgendeiner Weise "wirklich" gibt, dazu kann die Physik nichts sagen. Also ist die Frage für die Physik unbeantwortbar. Nicht zustimmen kann ich aber der Folgerung, daß diese Frage deshalb selber sinnlos ist. Es gibt durchaus Fragen, die jenseits einer Wissenschaft, die sich mit den betroffenen Entitäten auseinandersetzt, liegen, die aber doch in unterschiedlichem Maße in das Leben und gar in die Wissenschaft selber hinein wirken. Das will ich mit drei Beispielen veranschaulichen.

Erst einmal sei die Frage nach der Existenz der "Außenwelt" gstellt. Gibt es die Welt wirklich, oder existiert sie nur als Einbildung in meinen Gedanken? Diese Frage ist für die Erforschung der Welt wirklich unwichtig. Es gibt etwas, das ich erforschen kann, das nicht von meinem bewußten Wollen abhängt, und das auch noch Regeln zu folgen scheint. Also kann ich es wissenschaftlich erforschen. Das heißt aber nicht, daß ich die Frage nach der Wirklichkeit meines Forschungsgegenstandes nicht verstehe, oder daß sie mich nicht auf ganz unwissenschaftliche Weise interessieren würde. Und wenn wir ehrlich sind, dann sind wir in der Beantwortung dieser Frage seit den Meditationen des Descartes nicht wesentlich weiter gekommen. Nur der ontologische Gottesbeweis als möglicher Ausweg aus unserer Unwissenheit ist uns seitdem abhanden gekommen.
Die zweite Frage ist die nach der Existenz des Fremdpsychischen. Dies mag ein Teilaspekt der Frage nach der Außenwelt sein, aber hier sind die Folgen noch deutlicher. Tatsächlich kann ich nicht sicher wissen, ob ein anderer Mensch auch ein subjektives Erleben wie ich selber hat. Zwar kann ich eventuell feststellen, daß sei Gehirn funktioniert wie das meine, und daß es die gleichen Zustände aufweist wie mein eigenes, wenn ich ein bestimmtes Erlebnis habe. Doch ob es sich dabei nur um eine physikalische Ähnlichkeit handelt, oder ob dabei auch die selben subjektiven Erlebnisse gehören, das ist einer wissenschaftlichen Betrachtung unzugänglich. Nur die Fledermaus weiß eben, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein. Natürlich ist es aus pragmatischer Sicht sinnvoll, anderen Menschen das gleiche innere Erleben wir mir selbst zuzugestehen. Denn ich muß ja mit ihnen interagieren, und ich kann ihre Handlungen am besten verstehen und vorhersagen, wenn ich annehme, daß auch sie eine Innenwelt haben. Wichtig wird dieser Punkt aber jenseits reiner Pragmatik, wenn ich ich entschließe, psychoanalytisch tätig zu werden um anderen Menschen zu helfen. Rein pragmatische Überlegungen reichen nicht als Begründung aus, eine psychoanalytische Praxis zu eröffnen. Denn die Motivation, anderen im Falle psychischer Leiden zu helfen, kann ich nur dann aufbringen, wenn ich wirklich glaube, daß andere Menschen genauso subjektives Leid verspüren können, wie ich selber. Ich mache in diesem Fall also eine Annahme, die über die wissenschaftlichen Theorien der Psychologie hinausweist.
Und die dritte und gravierendste Frage ist die nach der Existenz abstrakter Entitäten, etwa der unendlichen Mengen. Es macht einen großen Unterschied, ob ich einer unendlichen Menge eine Existenz zuspreche, also an aktuale Unendlichkeit glaube, oder nicht. Denn hier entwickelt sich der Unterschied zwischen der intuitionistischen und der formalistischen Mathematik. Und die beiden verschiedenen Annahmen führen zu sehr verschiedenen mathematischen Gebäuden, mit unterschiedlichen Theoremen. Da dieser Punkt schnell sehr technisch wird, verweise ich für detailierte Beschreibungen dieses Problems auf die Literatur, z.B. die Darstellung in der Stanford Encyclopedia of Philosophy. Wem das aber zu weit führt, dem bleibt noch die folgende kurze Betrachtung. Denn oftmals findet man die Grundsätze, nach denen eine Wissenschaft vorgeht, in größter Klarheit nicht in den tiefgehenden philosophischen Analysen ihrer Grundlagen, sondern in den grundlegenden Lehrbüchern, die dem Nachwuchs einfach nur mit den Theorien und Methoden vertraut machen sollen. Und in dem Lehrbuch Einführung in die Mengenlehre von Heinz-Dieter Ebbinghaus (Spektrum Akademischer Verlag, 2003) finden wir das Zitat:
"Die Tatsache, daß die Mathematik in ihrer heutigen Gestalt nicht ohne den Mengenbegriff gedacht werden kann und daß die mengentheoretische Auffassung fruchtbarste Impulse gegeben hat, liefert eine pragmatische Rechtfertigung für die Mengenlehre und Anlaß genug, sich mit dem Mengenbegriff ernsthaft auseinanderzusetzen."
Eine schönere Bestätigung für Relativismus im Fundament der wissenschaftlichsten aller Wissenschaften kann man sich kaum wünschen.

Es bleiben also außerwissenschaftliche Fragen, die von Bedeutung für die Wissenschaft und das tägliche Handeln sind. Dies sollte deutlich genug auf die Grenzen eines rein wissenschaftlichen Weltbildes hinweisen. (Religion kann zwar Fragen wie die eben gestellten beantworten, allerdings nur zum Schein. Denn mit der Beantwortung stellen sich gleich von alleine die nächsten Fragen. Und diese gelten dann selbst wieder als nicht beantwortbar, normalerweise mit der Begründung, der Mensch sei von Gott nicht mit der Fähigkeit zu so weitreichender Einsicht ausgestattet worden. Und gerade damit gehen dann auch die Religionen kein bißchen über die erwähnte Unbeantwortbarkeit von Fragen aus sprachphilosophischen Gründen hinaus.)

Bleibt noch der Glaube an die grundsätzliche Verbesserung der Welt durch die Wissenschaften. Nicht, daß ich hier eine streng logische Begründung kennen würde, die es zu widerlegen gilt. Tatsächlich reicht auch eine Betrachtung der Welt aus, um massive Zweifel an dieser These zu wecken. Dazu empfehle ich die Lektüre des Buches Sceptical Essays von Bertrand Russell (z.B. bei Routledge, 2005). Dieses Buch ist bereits 1928 erschienen, und es beinhaltet eine Reihe von Aufsätzen zu politischen und moralischen Problemen der Zeit vor 1928. Dabei geht es mir gar nicht um die Antworten, die in diesen Aufsätzen gegeben werden, sondern um die bemerkenswerte Tatsache, daß dieses Buch, würde man die konkreten Anlässe darin durch moderne Beispiele ersetzten, auch gestern hätte geschrieben worden sein können. Weder haben sich in der Zwischenzeit die grundlegenden Konflikte geändert, noch haben die damals vorgeschlagenen Antworten entscheidende Spuren hinterlassen. Und wer nach dieser Lektüre immer noch glaubt, die Menschheit hätte in den letzten einhundert Jahren signifikante sittliche Fortschritte gemacht, der möge mir doch bitte sagen, welche Pillen er nimmt. Denn die hätte ich dann auch gerne.

1 Kommentar:

  1. "Und wer nach dieser Lektüre immer noch glaubt, die Menschheit hätte in den letzten einhundert Jahren signifikante sittliche Fortschritte gemacht, der möge mir doch bitte sagen, welche Pillen er nimmt. Denn die hätte ich dann auch gerne."

    Das ist ja das Problem, dass die sittliche Entwicklung der technischen um Jahrhunderte hinterherhinkt. Die besten Beispiele: Katholizismus und Islam. Anhänger beider Hirnseuchen haben kein Problem damit, die Technik des 21. Jhds. zu nutzen, be- bzw. verharren aber in ihren sittlich-moralischen Entwicklung in jahrtausende alten Grundsätzen. Das Handy in der einen Hand, die A-Bombe in der anderen und im Kopf die Bibel respektive den Koran. So wird Zukunft nicht gemacht, sondern zunichte gemacht.

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