Donnerstag, 28. Februar 2013

Existentialismus durch den Briefschlitz

Was für ein tolles Haus, in dem wir seit Kurzem wohnen! Nicht nur wird, kaum daß wir eingezogen sind, eifrig im Treppenhaus an der Elektrik gewerkelt. Nein, gestern Morgen, als ich rausging, machte sich auch jemand an den Briefkästen zu schaffen. Laut seiner Auskunft sollte er im Auftrag der Hausverwaltung an allen Briefkästen die alten, längst nicht mehr funktionierenden Schlösser durch neue austauschen. Endlich eine Hausverwaltung, die das Haus auch in Schuß hält! Gestern Abend beim nach Hause kommen waren auch tatsächlich ein brandneues Schloß in unserem Kasten. Nur den Schlüssel hatten wir nicht. Also rief ich heute mal bei der Hausverwaltung an und fragte, woher ich denn den Schlüssel zum neuen Schloß bekommen würde. Die junge Dame am Apparat meinte, sie wisse es auch nicht, würde aber mal schnell nachfragen. Und nach ein paar Minuten mit Für Elise, dargeboten auf einem elektrischen Kinderxylophon, in der Telefonwarteschleife, meldete sie sich triumphierend zurück: "Das ist gar kein Problem, da war gestern Nachmittag schon jemand von uns im Haus und hat Ihnen die Schlüssel in den Briefkasten geworfen!".
Und da war es ganz plötzlich mal wieder, dieses monströse Gefühl, daß die Realität zu groß, zu sperrig ist, um in den eigenen kleinen Verstand zu passen. Ein überwältigendes Gefühl der Dissonanz. Nachdem einige endlose Sekunden tiefsten Schweigens verstrichen waren, fragte ich doch noch einmal nach: "Sie haben mir den Schlüssel zu meinem Briefkasten in den Briefkasten geworfen?" Wie wohltuend war es doch, daß die Antwort der Dame nicht mehr ganz so selbstsicher klang: "Jaaaaa...".
Glücklicherweise ist das neue Schloß dann doch nicht so gut, als daß ich es nicht nach zehn Minuten wütenden Gestochers mit dem Schraubenzieher aufbekommen hätte. Drinnen war tatsächlich ein kleiner, brauner Umschlag mit der Aufschrift "7. OG, Wohnung 4" und zwei kleinen Schlüsseln drin. Und plötzlich, auf einem Schlag, versteht man die ganze Philosophie eines Albert Camus:
"Der Mensch fühlt, wie „fremd“ alles ist, die Außenwelt und ihre Sinnlosigkeit bringen ihn wegen seines Strebens nach Sinn in existentielle Konflikte. Dabei macht das Absurde vor niemandem halt: „Das Absurde kann jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen.“"
 "Um aber nicht in Verzweiflung und Passivität zu resignieren, propagiert Camus durchaus im Sinne des Existentialismus und in Anlehnung an Friedrich Nietzsche als Ziel den aktiven, auf sich allein gestellten Menschen".
Is' gebongt. Wie einfach es manchmal sein kann. Danke, Hausverwaltung!

6 Kommentare:

  1. Schräg. Interessante Version von "sich selbst in die Ecke gepinselt".

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    1. Yep. Es ist immer wieder toll, Profis bei der Arbeit zuzusehen...! :)

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    2. Bei welcher WBG haust man denn da gerade? Depp & Söhne Facility Management LIMITED?

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    3. Neinnein, Deppen UNLIMITED!

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  2. "(...) In der Zeit der Besatzung haben die angepaßten Zeitungen bei ihrer Verdammung die Existenzialisten und die Philosophen des Absurden in einen Topf geworfen. (...) Die Philosophie des Absurden ist kohärent und begründet. Albert Camus hat gezeigt, daß er das Zeug hat, sie allein zu verteidigen. Daher werde ich nur vom Existenzialismus sprechen. Haben Sie ihn wenigstens ihren Lesern erklärt? (...)"
    aus: Sartre, "Klarstellung" (1944)
    Nicht immer so schnell unkritisch Passagen aus Wikipedia kopieren!
    gez. Unterzeichner

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    1. Ach, mit der Technik schaffe ich es am Ende noch zum Summa Cum Laude! Nur abwarten!

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