Sonntag, 15. August 2010

Geld oder Werte?

Diese Woche fanden sich in den Zeitungen zwei bemerkenswerte Artikel. Im Ersten klagte der Literaturwissenschaftler Martin Hielscher in der Süddeutschen über das sich wandelnde Verhältnis zwischen Gesellschaft und Literatur [1]. Er bemängelt die Zuspitzung des literarischen Diskurses auf wenige einzelne Werke, von denen nichts zu verbleiben scheint, wandert der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit erst einmal weiter zu neuen, bejubelten Veröffentlichungen. Einen Tag früher schrieb Jana Hensel verbittert in der Zeit über die neue Generation konservativer Politiker in Deutschland [2]. Sie empfindet es, und wie den Kommentaren zum Artikel nach zu beurteilen auch viele andere, als unangenehm, von Menschen regiert zu werden, die bereits mit 14 Jahren wußten, was richtig ist, und die, so scheint es, ihre Überzeugungen ihre Karriere hinauf bis auf die Regierungsbank auch niemals überdenken oder gar revidieren mussten. Und tatsächlich beschreiben diese beiden Artikel zwei Randsymptome eines gemeinsamen und noch vielen anderen Sorgen dieser Tage verursachenden Übels: dem Fehlen von Werten.

Keine Werte, nirgends
Das ausgerechnet ich mich jetzt über einen Mangel an Werten beklage, überrascht mich selbst ein bisschen. Aber ich möchte Werte hier keinesfalls auf irgendwelche konserative Bedeutungen eingeschränken, sondern sie im weitesten Sinne verstanden wissen, vom Christentum bis meinetwegen zur Hippiebewegung. Ein Wert sei hier alles Erstrebenswerte jenseits materieller Interessen.
Der Mangel an solchen Werten ist speziell ein Problem Deutschlands, und allgemein eines Westeuropas. Herr Hielscher weist zu Recht auf den Verlust einer gesellschaftlichen Utopie als Mitursache der literarischen Misere hin, doch fehlt es an Utopien in jeder Hinsicht. Unser Gott ist tot, und es bleibt uns erspart, zu seinen Ehren Kathedralen zu errichten oder Epen zu schreiben. Der Glaube an ein Verbessern der Welt durch technischen Fortschritt wurde zum unerfüllten Wunschdenken und erscheint nach Reaktorkatastrophen und Chemieunglücken nur noch naiv. So bleibt es uns verwehrt, uns an technischen Superlativen zu erfreuen, statt dessen bohren wir nach den Schäden, die wir mit unserem Tun in der Welt anrichten, sollten sie sich nicht freiwillig zeigen.
Doch auch auf einer persönlicheren Ebene bleibt nicht viel an Werten übrig. Müßiggang ist als Freizeitgestaltung inzwischen unbekannt. Zu Auslandsaufenthalten entscheidet man sich nicht mehr aufgrund seines Interesses an anderen Kulturkreisen oder aus einem diffusem Drängen nach Selbstfindung heraus, sondern weil der Lebenslauf danach verlangt. Schließlich muß man im Vorstellungsgespräch internationale Erfahrungen vorweisen können. Und dieses Leben für den Lebenslauf nimmt groteske Formen an, wenn in Managementseminaren dezent darauf hingewiesen wird, daß ehrenamtliches Engagement im sozialen Bereich einem Manager gut zu Gesicht steht - allein schon aus dem Grund, da man in Führungspositionen soziale Verantwortung und Sensibilität an den Tag legen muß. Vor dem Hintergrund solchen Denkens sind Lücken oder Brüche im Lebenslauf längst von einem normalen Anzeichen menschlicher Entwicklung zu einer lauten Warnung vor Ineffizienz und mangelnder Hingabe geworden. In einer Zeit, in der man selbst bei einer Bewerbung als Bürogehilfe noch versichern muß, daß es sich dabei schon immer um den eigenen Traumberuf gehandelt hat, sind solche Imperfektionen nur dann akzeptabel, wenn man glaubhaft machen kann, dadurch an materiell verwertbaren Kompetenzen gewonnen zu haben.

Stolz? Wie unreif!
Vollendet wird dieser gesellschaftliche Verlust an Werten durch das Abhandenkommen der wichtigesten und am weitesten verbreiteten nichtmateriellen Motivation, der Freude und dem Stolz auf die eigenen Fähigkeiten. Dieses Motiv mag schon beim Bau der Pyramiden oder der Kathedralen neben dem religiösen Antrieb eine Rolle gespielt haben, dem modernen Westeuropa aber geht es vollends ab. Seitdem der Eiffelturm 1930 vom Chrysler Building als höchstes Gebäude der Welt abgelöst wurde, ging dieser Rekord nie wieder nach Westeuropa. Und das nicht etwa aus Mangel an finanziellen oder technologischen Möglichkeiten. Man stelle sich nämlich nur die öffentliche Entrüstung und den losbrechenden Sturm an Protesten vor, wollte jemand diesen Rekord tatsächlich wieder in unseren Teil der Welt holen! Was das kostet, das ist doch wirtschaftlicher Unsinn, das verschandelt die Stadt, das ist nur albernes Geprotze, das wir doch nicht nötig haben. Und so werden es andere sein, in Amerika oder Asien, die auf das höchste Gebäude der Welt stolz sein können und diese Rekordliste weiter schreiben werden.
Noch drastischer fällt der Mangel an Begeisterungsfähigkeit für die eigenen Kräfte in der bemannten Weltraumfahrt ins Auge [3]. Denn hier ist es ausgerechnet das reiche Westeuropa, in dem der Sinn der Ausgaben für dieses materiell wenig lohnende Unterfangen immer wieder angezweifelt wird, während ärmere Länder wie China oder Indien in dem Weltraum drängen, um der Welt ihre eigenen Fähigkeiten vorzuführen und sich selbst dadurch zu feiern. Und gerade in der Großforschung, nicht zuletzt in der Weltraumfahrt, zeigt sich das ganze paradoxe Ausmaß dieses Werteverlusts. Denn man ist vieleicht geneigt, die Wissenschaft, für die in Europa, gerade in Gemeinschaftsprojekten wie der gemeinsamen Weltraumagentur ESA, große Summen ausgegeben werden, als eine Tätigkeit anzusehen, die doch noch über rein materielle Interessen hinaus reicht. Und hier gibt es immer wieder öffentliche Kritik an der vermeintlich nutzlosen Verwendung von Steuergeldern. Und auch wenn eine Organisation wie die ESA in ihrer Selbstdarstellung viel Gewicht auf ihren Auftrag zur Forschungsförderung legt, man muß nur eine Ebene weiter vordringen, etwa zum Ministerrat, dem Gremium der europäischen Fachminister, das das Budget und die politischen Ziele der ESA festsetzen. Dort findet sich unter den strategischen Zielen der europäischen Raumfahrt nichts mehr von Erkenntnisgewinn über das Universum, oder ähnlich romantische Vorstellungen, sondern Dinge wie "die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen zur Nutzung im Alltag zu fördern" oder Europas "Position auf dem weltweiten Markt für Weltraumsysteme, -dienste und -anwendungen zunehmend zu stärken" [4]. Man sollte also nicht glauben, eine Weltraummission werde nach rein wissenschaftlichem Nutzen ausgewählt. Selbst in Bereichen in denen manche, die einen erfreut, die anderen ob der Geldverschwendung erbost, noch immaterielle Werte vermuten, dominieren längst pragmatische und materielle Interessen.

Effizient oder egal
Wenn nun unserer Gesellschaft jedes irgendwie höhere Ziel abhanden gekommen ist, so ist es auch nicht verwunderlich, daß die Ökonomie, nun von jeder anderen Aufgabe befreit, zum reinen Selbstzweck geworden ist. Es ist die schon immer wieder kurz erwähnte wirtschaftliche Effizienz, die den leitenden Gedanken für alles Handeln stellt. Das höchste Gebäude der Welt zu bauen dient keinem höheren Zweck, stellt keinen Wert für sich dar, und wird daher aus rein ökonomischen Gesichtspunkten abgelehnt. Ebenso ergeht es der bemannten Raumfahrt. Manch einer würde wohl auch die Pyramiden als billige Baustoffquelle abtragen, würden sie nicht als Tourismusmagnet mehr Geld einbringen. Und letztlich widerfährt es einem jeden Einzelnen mit seinem Lebenslauf so. Anerkennung, oder doch zumindest Akzeptanz, findet nur, was ökonomisch verwertbar ist. Kinder zu erziehen zählt da ebenso wenig wie einige Jahre nach Goa auszusteigen oder sich zeitweilig für nichts als lateinamerikanische Literatur zu begeistern.
Wen wundert es also noch, wenn Führungspersonal, sein es in der Wirtschaft, sei es in der Politik, nur nach Geradlinigkeit und Stromlinienform ausgesondert wird? Was ist überraschend daran, daß es allein kommerzielle Interessen sind, die den öffentlichen Diskurs über Literatur bestimmen, und Bücher nur gekauft, und vieleicht manchmal sogar noch gelesen werden, um die Erwartungen der Gesellschaft zu erfüllen? Es ist nur verständlich, daß wir Mittelmaß hervorbringen, wenn uns Großes nicht interessiert, und uns immaterielle Werte nur noch als naive Phantasien pubertärer Naturen erscheinen. Doch wenn wir unsere gesellschaftliche Impotenz so auch noch für Abgeklärtheit halten, dann müssen wir uns zumindest nicht wundern, wenn wir anderen, pubertären Gesellschaften beim frohen Gestalten der Zukunft in allen Bereichen nur noch zusehen.

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