Freitag, 22. März 2013

Schwule, Frauen, Schulden

In menschlichen Gesellschaften gibt es ein Phänomen namens "Naturalisierung". Der Begriff meint, daß soziale, menschengemachte Normen oder Konventionen von Mitgliedern der Gesellschaft so sehr verinnerlicht werden, daß sie nicht mehr länger als sozialen Ursprungs wahrgenommen werden, sondern vielmehr als "natürlich", aus der Natur der Welt heraus entspringend. Die Konvention, bei Rot an der Ampel zu halten etwa wird man allgemein als rein soziale Konvention betrachten. Verstößt jemand gegen sie, so wird man das Verhalten des Betreffenden wohl als unsozial und unangebracht empfinden, nicht aber als "widernatürlich". Als Gegenbeispiel wird man vielleicht an homosexuelle Beziehungen denken, die von ihren Gegnern immer wieder gerne als "widernatürlich" bekämpft werden. Das ist natürlich vollkommener Unsinn. Man kann nicht nur kein Naturgesetz denken, das gleichgeschlechtliche Sexualkontakte ausschließt, man findet sie vielmehr durch alle Zeiten hindurch beim Menschen wie auch bei anderen Spezies. Homosexualität wäre nur dann "widernatürlich", würde man der Natur selbst vorwerfen wollen, widernatürlich zu sein. Offenbar aber haben manche Menschen die gesellschaftliche Ablehnung homosexueller Lebensweisen so sehr verinnerlicht, daß sie diese geradezu als Verstoß gegen Naturgesetze empfinden. Der Verstoß gegen eine naturalisierte Norm scheint so ungeheuerlich und gefährlich, wie sich gegen den Lauf der Sonne aufzulehnen.
Nun ist der Prozess der Naturalisation nicht zwangsläufig etwas Negatives. Sie ist ein ausgesprochen starkes Instrument sozialer Ordnung und eignet sich damit gut, Grundsätze, ohne die weder ein gesellschaftliches noch ein persönliches Leben zu funktionieren in der Lage wäre, gleichsam als feste Pfeiler einzurammen. Und geeignete Grundsätze können durchaus positive Wirkungen entfalten. Doch aufgrund seiner Stärke führt dieser Prozess immer wieder zu gewaltigen negativen Folgen. Von solchen betroffen sind längst nicht nur (echte oder vermeintliche) Minderheiten, sie können mühelos auch große Gesellschaftsgruppen, gar die Mehrheit erfassen und sie gegen ihre eigenen Interessen in Stellung bringen. So läßt sich vielleicht verstehen, weshalb es im frühen 20. Jahrhundert Frauenorganisationen gab, die sich energisch gegen ein Frauenwahlrecht engagierten [1][2]. Offenbar haben genug Frauen die damals durchaus noch gängige Ansicht, Frauen seien für die Politik ungeeignet und würden dort nur zu Problemen führen, so sehr verinnerlicht, daß sie dies für quasi natürlich gegeben betrachteten und so für ihre eigene Benachteiligung kämpften.
Es liegt im Wesen der Sache, daß ein solches Verhalten den Zeitgenossen nicht leicht auffällt. Und so ist es womöglich häufiger anzutreffen, als man meinen möchte. Angesichts der heutigen Wirtschaftspolitik etwa drängt sich der Eindruck auf, die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland und Europa sei bereit, Entwicklungen und Vorgehensweisen hinzunehmen, die gegen ihre eigenen Interessen gerichtet sind und nur einer Minderheit zum Vorteil reicht. Denn diese Entwicklungen scheinen ebenfalls quasi naturgegeben. Vermeintlich unausweichlichen Gesetzten der Ökonomie folgend werden sie kaum infrage gestellt, sie sind "alternativlos". Doch tatsächlich folgt die Ökonomie auch nichts weiter als menschengemachten Konventionen. Und daß all diese Konventionen jederzeit nach Belieben geändert werden könnten, sofern nur genug Mut und Organisationstalent aufgebracht würde, wird dabei geflissentlich übersehen, ignoriert, als Ungeheuerlichkeit gemieden. Wer will es schon wagen, sich gegen den Lauf der Sonne aufzulehnen? Nun, irgendwann werden die dringend nötigen Veränderungen nicht mehr aufgeschoben werden können. Und wie im Falle des Frauenwahlrechts wird es im Rückblick nur noch kurios und ein bisschen traurig anmuten, daß sich auch die Geschädigten selbst so lange den notwendigen Verbesserungen widersetzt hatten.

8 Kommentare:

  1. Ein wahrlich sehr guter Text, der das auf den Punkt bringt, was ich in meinem aktuellen Beitrag mit ausufernden Worten nicht in der Deutlichkeit vermitteln konnte.

    Ich ziehe den Hut!

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    1. http://aufzeichnungen-eines-gutmenschen.blogspot.de/2013/03/euroland-ist-abgebrannt.html

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    2. Ja, im Grunde sagt man immer das gleiche. Aber irgendwie wirkt es nicht...

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  2. Kleine Frage an das Thema des ersten Abschnitts gerichtet: Ich bin einige Male auf die Aussage gestoßen, daß Homosexualität (und in Reaktion darauf Heterosexualität) als persönliche Einstellung ein soziopolitisches Konstrukt ist und erst im ausgehenden 19. Jahrhundert zu Zwecken des Rechtsschutzes erfunden wurde. Die entsprechenden Autoren gehen davon aus, daß bis dahin eine prinzipielle erotisch-romantische Ansprechbarkeit gegenüber beiden Geschlechtern für jeden Menschen als gegeben betrachtet wurde (wenngleich nur eine Form erwünscht war). Dementsprechend hätte auch in diesem Fall eine ausgesprochen starke Naturalisierung stattgefunden, da eine Fixierung auf Partner eines Geschlechtes heute als natürlicher, zumeist als angeborener, Zustand betrachtet wird.
    Wie stehst du zu diesem Thema?

    Den dritten Punkt, ökonomische Visionen und deren Mangel, formulierst du leider ausgesprochen unklar. Geht es um den Anspruch der Wirtschaftswissenschaften, Gesetzmäßigkeiten im wirtschaftlichen Handeln von Menschen und Systemen finden zu wollen (bzw. solche tatsächlich zu kennen)? Um die weitgehende Akzeptanz des Kapitalismus seit dem Ende der Sowjetunion als angenommenes kleinstes aller Übel? Um ein für sich genommen irrationales Streben der Menschen (nach Geld, nach Arbeit, nach mehr als andere besitzen...), das als naturgegeben betrachtet wird? Um konkrete Alltagspolitik im Umgang mit den Problemen verschiedener EU-Staaten?
    Mit Sicherheit wird unsere heutige ökonomische, vielleicht auch politische, "Betriebsblindheit" in einigen Jahrzehnten überdeutlich wahrgenommen werden, höchstwahrscheinlich von einem System, das genauso blind gegenüber Alternativen ist. Nur ist es in der abstrakten Art, in der du es ausgedrückt hast, nicht möglich jetzt Stellung dazu zu beziehen.

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    1. Zur ersten Frage:
      Zur Geschichte des Konzepts "Homosexualität" kann ich mich wirklich nicht qualifiziert äußern. Aber unqualifiziertes Losspekulieren ist für mich gar kein Problem:

      Das die Einteilung von Menschen in die Kategorien homosexuell/heterosexuell ein Produkt des späten 19. Jahrhunderts ist, scheint mir sehr einleuchtend. Wenn man antike (nichtjüdische) Texte liest, dann gehen gleichgeschlechtliche und gemischtgeschlechtliche sexuelle Kontakte so ungezwungen, selbstverständlich und frei von moralischen Aspekten nebeneinander her, daß ich mir kaum vorstellen kann, es hätte hier eine Einteilung in solche Kategorien geben können.
      In christlich geprägter Zeit mag Homosexualität als Sünde schon ein Thema gewesen sein. Ich glaube aber nicht, daß zu diesen Zeiten die Motive menschlichen Handelns ein großes Thema gewesen sind. Es zählte eher die Tat als das Motiv, da scheint es mit unwahrscheinlich, daß überhaupt jemand auf den Gedanken hätte kommen können, Menschen nach ihren sexuellen Präferenzen zu sortieren.
      Darauf, daß der Rechtsschutz zu einer solchen Einteilung geführt hat, wäre ich aber nicht gekommen. Ich hätte den Ursprung eher im Entstehen der Psychologie im 19. Jahrhundert vermutet. Diese hat sich erst wirklich mit den Ursprüngen menschlicher Handlungen und Motivationen beschäftigt. Und da sie sich aus der Medizin heraus entwickelte, übertrug sie naheliegenderweise die klare Diagnose und Kategorisierung körperlicher Krankheiten auf den seelischen Bereich. Homosexualität war eine Diagnose. Eine so naive Vorstellung von einer angeborenen sexuellen Orientierung oder "Widernatürlichkeit" hatte die Psychologie aber wohl dennoch nie. Selbst nach klassischen psychologischen Theorien entwickelt sich die sexuelle Orientierung erst mit der Zeit. Und selbst wenn man überkommen Homosexualität als seelische Krankheit auffasst, so ist sie doch sowenig "widernatürlich" wie irgendeine Krankheit.
      Einer heutigen Frage "Bist du homo oder hetero" scheint mir eine vulgäre Auffassung eines aus dem 19. Jahrhundert stammenden Begriffs der Homosexualität zu sein. Und eine solche Vereinfachung auf ein simples Gegensatzpaar entspricht einfach den Anforderungen einer politischen Diskussion.
      Das sich aber hinter der Wahl homo/hetero eine naturalisierte Norm verbirgt, glaube ich nicht. Eine Aussage wie "es ist widernatürlich, etwas anderes als homo- oder heterosexuell zu sein", wirkt doch heute reichlich bizarr. Denn bereits homosexuell zu sein ist ja noch nicht restlos akzeptiert.

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    2. Zur zweiten Frage:
      Jetzt fühle ich mich ertappt. Als mir beim Schreiben auffiel, wie verzwackt diese Angelegenheit ist, habe ich es extra abstrakt gehalten um mir zu ersparen, es auch nur für mich aufzudröseln.
      Ausgegangen bin ich auf jeden Fall von tagespolitischen Problemen. Seit Jahren taucht "die Krise" in ähnlicher Form immer wieder woanders auf: Zypern, Spanien, Griechenland, Portugal, Irland, Island. Und (fast) immer wird mit dem gleichen Rezept reagiert: Verstaatlichung von Risiken und Kürzungen öffentlicher Ausgaben. Doch irgendwie scheint diese Therapie ja nicht so recht zu wirken. Dennoch wird sie erstaunlich wenig infrage gestellt. Sie erscheint unausweichlich. Und anstatt einen grundsätzlichen Fehler in der Wirtschaftsordnung zu vermuten, wird diese als unantastbar uns unausweichlich gesehen. Der Ärger richtet sich lieber gegen das vermeintliche Unvermögen insbesondere der "Südländer", wirtschaftlich zu handeln...
      Und natürlich kann man von hier aus auch auf die anderen Punkte kommen, etwa der nicht unbedingt rühmlichen Rolle der Wirtschaftswissenschaften oder der Stellung des Kapitalismus an sich...

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    3. ich konnte mit deinem zweiten Teil auch nicht viel anfangen - ein Kratzen an der Oberfläche aber keine konstruktive Kritik oder gar Lösungsansätze. Klar, das Thema ist breit und schwer zu fassen ...

      Versuch doch mal, dich von ein paar Grundsätzen der Ökonomie leiten zu lassen und kritisiere, ob die wirklich als Quasi-Axiome gelten dürfen:
      (i) ganz banal eine Definition für "wirtschaften": der Umgang mit knappen Ressourcen. Belohnt wird, wer knappe (und damit im regelfall teure) Ressourcen am effizientesten einsetzt. Soweit so gut, aber effizient werden viele Systeme erst in der Massenfertigung
      (ii) jede Nachfrage steuert das Angebot: wenn etwas gebraucht wird (jemand bereit ist, dafür zu zahlen), wird sich jemand finden, der es anbietet. Soweit so gut, aber pervertieren wir diesen Grundsatz durch Werbung/Marketing, indem wir dem Menschen "einreden", ohne was sein Leben unerfüllt sei? Liefert "Produktstrategie" sinnvolle Ergebnisse, bevor wir wussten, dass wir das nachfragen sollten - was kommt wirklich zuerst.
      (iii) ist das System der Geldschöpfung (Buchgeld) unverzichtbar
      (iv) gibt es Grenzen des Wachstums oder Wachstum der Grenzen

      ..........

      ich könnte da noch einige Zeit weiter schreiben, aber ich glaube ich habe meinen Standpunkt deutlich gemacht. Willst du dich mit diesen Themen beschäftigen - und wenn ja, wäre das eine solide Basis darüber zu schreiben, ob "Kaputtsparen" sinnvoll ist / sein kann oder Bankenrettungen unverzichtbar sind.

      Danke für deine Beiträge, es ist immer ein vergnügen, vor allem, wenn du der (Un)Logik auf der Spur bist.

      Liebe Grüße, Klaus

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    4. Diese Denkanstöße sind wirklich gut! Mal sehen, ob ich noch zu etwas Soliderem finde...

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