Freitag, 20. Mai 2011

Der Morgen lebt nie (Teil 2)

Die Bedeutung der menschliche Sprache ist kaum zu überschätzen: Erst der Erwerb der Sprache ermöglichte es der Menschheit, kollektive Kulturleistungen zu erbringen, die Welt zu erobern, und Talkshows zu produzieren. Und doch liegt der Ursprung der Sprache selbst verborgen in der fernen und dunklen Vergangenheit unserer Spezies. Zeitweilig hielt man das Rätsel um ihre Entstehung gar für unbeantwortbar! Doch im zwanzigsten Jahrhundert ermöglichte der allgemeine wissenschaftliche Fortschritt, das Problem neu anzugehen. Man studierte die anatomischen Voraussetzungen zur Artikulation von Lauten und ihre evolutionäre Entwicklung. Man konnte an immer mehr Schädeln früher Menschenarten nicht nur das Hirnvolumen unserer Vorfahren, sondern sogar die Windungen der Gehirne rekonstruieren, die einst in den Schädeln zuhause waren. Es gelang, große Kulturleistungen wie etwa die Besiedelung der pazifischen Inselwelt, deren Gelingen eine sprachliche Kommunikation der Menschen untereinander voraussetzte, immer genauer zu datieren. Und so nähert sich die Wissenschaft in Disziplinen übergreifender Zusammenarbeit langsam aber stetig der geheimnisvollen Wurzel der menschlichsten aller Fähigkeiten an. Nur eine Informationsquelle, die nutzt die moderne Forschung unverständlicherweise bis heute einfach nicht: das morgendliche Aufwachen.
Denn Menschen wie ich vollziehen das Mysterium der Sprachentstehung jeden Morgen aufs Neue, gewissermaßen im Zeitraffer und stellvertretend für die ganze Menschheit. Und somit könnte mein mühsames und qualvolles Erwachen am frühen Vormittag zumindest der Wissenschaft in einer ihrer grundlegenden Fragen weiterhelfen!
Es beginnt schon mit dem ersten Öhhh... des Tages, unmittelbar (d.h. ca. 15 min) nach dem Aufwachen. Diese quasi noch vorsprachliche Äußerung transportiert noch keinerlei Information, ist an niemanden gerichtet, sie bringt allein einen inneren, seelischen Zustand zum Ausdruck (Dies allerdings mit erstaunlicher Präzision!). Doch kaum eine halbe Stunde später, wenn ich mich bis ins Bad geschleppt habe, und ich die Frage "Soll ich dir schon mal einen Kaffee aufsetzen?" gestellt bekomme, reagiere ich mit einem Öhhh-Hmmmmm..., das die Fragende als "Ja" zu verstehen gelernt hat. Hier werden nicht nur bereits einfache Laute zu komplexeren Mustern kombiniert, nein, hier dient die Lautäußerung bereits zu mehr als nur der Repräsentation des inneren Zustandes eines Individuums! Zum ersten Mal wird die Produktion einer Lautfolge zur Kommunikation mit einem anderen Mitglied der Horde verwendet. Zudem wird mit der Zustimmung zugleich einem abstrakten Konzept sprachlich Ausdruck verliehen. Der nächste große Schritt in der Genese der menschlichen Sprache wird bereits unmittelbar nach dem Duschen möglich, wenn die Frage lautet, was ich denn zum Frühstück möchte: Mmmmmmüsli... Dies ist der Moment, in dem zum ersten Mal ein referenzieller Akt vollzogen wird! Von nun an kann eine Lautsequenz als abstrakte Referenz für einen Gegenstand wie etwa Müsli stehen! Und man sollte die Tragweite dieses Evolutionsschrittes nicht unterschätzen, denn immerhin geht es in dieser Situation nicht nur um das konkrete Müsli in der Schüssel, sondern um Müsli als universalem Terminus! Bereits hier hat sich der Verstand in den platonischen Himmel erhoben! Der letzte und abschließende Schritt in der Entwicklung der menschlichen Sprache folgt dann gleich nach dem Frühstück. Auf die Frage, ob ich denn noch etwas möchte, folgt als Antwort MmmmußLosZurArbeit..., und damit ein ganzer Satz, ein erster vollständiger illokutionärer Sprechakt!
So vollzieht sich in meiner Wohnung das Wunder der Glottogonie jeden Morgen aufs Neue, und sie würde eine interessante Modellsituation für die linguistische Forschung abgeben. Und wenn ich dann auf dem Weg zur Arbeit aus dem Treppenhaus auf den Bürgersteig hinaustrete, und die ältere Dame von eine Etage tiefer bereits am Morgen ihren Pudel Gassi geführt hat, dann gibt es als Zugabe für den Linguisten sogar noch die Entstehung des pejorativen Expressivs "Scheiße!" zu beobachten!

2 Kommentare:

  1. Eine bemerkenswerte Zwischenstufe in der Entwicklungsgeschichte hominider verbaler Kommunikation stellen die Schweizer dar, welche bei der Artikulation ihrer Frühstückspräferenz gegenwärtig erst beim Müesli angelangt sind, sozusagen der etymologischen Vorstufe zum Müsli, wie man es in höherentwickelten Kultursprachen kennt.

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  2. "Müesli" sieht doch geschrieben irgendwie nett aus... Schöner wäre höchstens noch "Müüsli"!

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