Gar nicht mal so wenige Zeitgenossen scheinen sich recht verloren vorzukommen in der modernen, durchrationalisierten Welt. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, weshalb sich alle möglichen "Glauben" großer Beliebtheit erfreuen, solange sie irgendwie "natürlich", "ganzheitlich", "sanft", "traditionell", oder auch "spririuell" oder "auf uraltem Menschheitswissen basierend" sind. Und ich kann den mit diesen Attributen verknüpften Wunsch nach Geborgenheit in einem "menschlichen" Universum auch durchaus nachvollziehen. Und das kann wohl auch Die Zeit, wenn sie ihren online-Lesern in der vergangenen Woche gleich zweimal die Verwendung von Placebos ans Herz legt.
Das erste mal war es in einem Artikel zur Homöophatie. Zwar ließ dieser Artikel keinen Zweifel darüber, daß Homöophatie nicht besser wirkt als ein Placebo - aber hey! - das heißt, sie wirkt! Und so berichtet sie uns froh, wie Homöopathen und Mediziner zusammen finden und ihre Patienten mit wundervollem Erfolg gemeinsam in Krankenhäusern behandeln.
Und gestern stellt Die Zeit dann in einem Artikel zum Gottesbild fest, daß das Beten um den Sieg bei einem Fußballspiel selbst aus religiöser Sicht furchtbar naiv ist. Aber auch mit dem "rationalen" Glauben, der für sie in Lehrsätzen seinen Ausdruck findet, hadert sie. Stattdessen legt sie uns die Mystik nahe. Durch spirituelle Übungen sollten wir uns Gott annähern. Und warum sollen wir das? Soweit, daß sie Mystik als einen ernsthaften Weg zur Erkenntnis über die Welt empfiehlt, geht Die Zeit dann doch nicht, das wäre ihr dann doch noch zu peinlich. Und so ist die Begründung dieselbe wie bei der Begeisterung für die Homöopathie:
"Die Naturwissenschaft kann uns erklären, warum wir Krebs haben, sie kann unsere Krankheit vielleicht sogar heilen. Aber sie kann die Angst, die Enttäuschung und das Leid nicht lindern, die mit der Diagnose einhergehen, und lehrt uns auch nicht, in Würde zu sterben. Die Religion, immerhin, kann uns dabei helfen."
Also knapp gesagt, ob was dran ist oder nicht ist ja egal, solange es hilft. Und gerade damit habe ich meine Problem. Es ist gar nicht mal so, daß ich diese sehende, geradezu rationale Unvernunft nicht verkraften könnte. Traurig, gewiß, aber letztlich haben wir nun mal alle unsere irrationalen Hoffnungen. Dann ist da noch mein ausgewachsener Neid, daß manche es verstehen, Milliarden von Euro mit wirkunslosen Versprechungen (d.h. natürlich, mit Placebos) umzusetzten, während ich in einem Beruf tätig bin, in dem ich objektiv überprüfbare Ergebnisse hervorbringen muß. Doch auch diesen Neid kann ich überwinden. Bei genauerer Betrachtung ist die Welt ja voll von Leuten, die heiße Luft in Geld verwandeln. Was mich aber wirklich und unversöhnlich ärgert, ist die mit diesem Standpunkt einhergehende Aufweichung von Qualitätskriterien. Wie soll ein Kranker ohne Medizinstudium auf lange Sicht unterscheiden können, was eine fundierte medizinische Behandlung und was Hokuspokus mit Zuckerkügelchen ist, wenn in einem einzigen Krankenhaus beides parallel praktiziert wird? Wie soll man, ohne eine langwierige Ausbilung, am Ende unterscheiden, welche Aussage das Resultat einer soliden wissenschaftlichen Theorie, und welche einer spirituellen Einsicht entsprungen ist, und warum das überhaupt einen Unterschied macht, wenn beides als Erkenntnisweg akzeptiert wird? Warum nicht Forschungsgelder in die Homöopathie stecken wie in jede andere medizinische Forschungsrichtung auch, wenn sie doch genauso Patienten behandelt und ihnen hilft? Und warum bei einer politischen Entscheidung am Ende einem wissenschaftlichen Gutachten mehr Gewicht beimessen als der in langer Meditation ausgebrüteten Empfehlung eines Mediums? Sicherlich ist eine solche Entgrenzung nicht die Absicht der "Hauptsache, es hilft"-Fraktion. Aber mit gutmeinenden und "ausgewogenen" Artikeln wie denen in der Zeit leistet sie am Ende einen Bärendienst.
Und nur für den Fall, der Leser sollte das alles hier zu hypothetisch finden: ich habe schon mal einen Umweltbewegten erlebt, der lautstark "genfreies Essen" einforderte! Da scheint schon jetzt mitunter Wissen und Wunsch ziemlich durcheinander zu gehen.
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