Samstag, 28. September 2013

Ärzte mit Grenzen

Kontakte zwischen verschiedenen Kulturen bieten zahlreiche Gelegenheiten für Missverständnisse. Um  Beispiel zu finden ist es gar nicht mal nötig, irgendwelche obskuren japanischen Höflichkeitsrituale zu bemühen. Man findet sie auch mitten in Europa. Zwischen Deutschland und Frankreich etwa. Gewisse deutsche Konzepte von Sarkasmus sind in Frankreich völlig unbekannt und stoßen somit auf großes Unverständnis. Ich meine die deutsche Art, sich sehr positiv über etwas zu äußern und damit das genaue Gegenteil zu meinen. "Schon wieder ein Regentag, ich liebe ja diesen grauen Himmel und den endlosen Nieselregen" etwa, was ja eigentlich heißt: "Ich kann diesen Scheiß Regen nicht mehr sehen". Oder "Was für ein wunderbarer bürokratischer Aufwand! Ohne ihn wüsste ich gar nicht, was ich mit meinem Tag anfangen soll!". Bei einem französischen Gegenüber können solche Äußerungen einen Gesichtsausdruck auslösen, als habe man gerade den Verstand verloren. Weil sie ganz wörtlich verstanden werden.
Umgekehrt gibt es unter Franzosen eine weit verbreitete und naive, von allen Realitäten losgelöste Begeisterung für die Vorzüge des eigenen Landes. Und Deutsche können (glücklicherweise) gar nicht nachvollziehen und glauben, daß jemand solche hemmungslosen Lobhuddeleien auf sein Vaterland wirklich ernst, absolut todernst, meinen könnte.
Kommt beides zusammen, französisches Unverständnis des deutschen Sarkasmus' und deutsches Unverständnis für französisches Nationalgepoltere, dann gibt es genug Gelegenheiten für Mißverständnisse, um Kriege auszulösen...


Es war an einem dieser Spätsommertage in Paris, an denen die Stadt unter einem milchig-weissen, trostlos homogenen Himmel brütete, als ich vom Bahnhof Montparnasse Richtung Alésia lief. Die Straßen waren vollgepisst, teilweise auch von Hunden, aber das gehört in Paris ja dazu. Den Arzt, zu dem ich wollte, hatten mir Bekannte empfohlen. Bevor ich in seiner Behandlung gewesen bin, hätte ich wahrscheinlich Freunde geschrieben. Er praktizierte im ersten Stock eines Altbaus, in notdürftig umfunktionierten Wohnräumen. Beim Drücken des Klingelknopfes summte der Türöffner automatisch, und ich stieg auf einem dicken, flauschigen, irgendwann wohl einmal strahlend rot gewesenen Teppich auf der weiten Treppe hinauf und öffnete die riesige, hohe Holztür zur Praxis. Eine Praxishilfe gab es nicht. Man ging gleich zum Warten nach links in einen Raum, dem man deutlich ansah, daß er lieber ein Schlafzimmer gewesen wäre. Und dort wartete man auf Wartezimmerstühlen. Das heißt auf Stühlen, deren Entwürfe vermutlich von menschenhassenden Möbeldesignern in den Geheimarchiven der Inquisition aufgespürt worden waren. Ich musste zur Toilette. Und so weiträumig die Wohnung auch gewesen sein mag, die Toilette war in einem besseren Wandschrank direkt neben der Eingangstür eingebaut worden. Gebeugt in der Räumlichkeit, in der ich kaum Platz zum Umdrehen hatte, fummelte ich das mikroskopische Riegelchen an der Tür zu und versuchte, ohne allzu große Kollateralschäden ein eine Toilettenschüssel zu urinieren, die als Bidet für wachstumsgehemmte Gartenzwerge hätte dienen können. Aber winzige Sanitärinstallationen, das gehört in Paris ja dazu. "Wasserklosett" mag zwar vage französisch klingen, erfunden haben es aber dennoch die Briten. Und als Franzose ist man traditionell mißtrauisch gegenüber allem, was von den Britischen Inseln herüber kommt. Umgekehrt genauso. Das erklärt, weshalb die Briten heute noch in bizarren Einheiten rechnen (Längen in Meilen, Bier in Pints und Druck in Pfund pro Quadratfuß). Und weshalb in Paris wirklich jeder U-Bahnhof nach Pisse stinkt.
Zurück im Wartezimmer griff ich leichtfertig nach einer herumliegenden Zeitschrift - einer gut drei Monate alten Ausgabe von Paris Match, die aussah, als hätte sie seit ihrem Druck Obdachlosen durch die Nächte geholfen. Und die sich irgendwie so anfühlte wie die Rückwand meines Kühlschranks. Damals. Als ich auf der Suche nach einem letzten unverdorbenen Joghurt einmal zu weit nach hinten durchgegriffen hatte... Unangenehme Erinnerungen wurden wach, und ich ging noch einmal zur Toilette um mir die Hände zu waschen. Mehr als bis zum zweiten Fingerknöchel passten die aber nicht unter den winzigen Wasserhahn. Macht nichts. Ich kann ja gleich den Arzt nach Antibiotika fragen.
Einer nach dem anderen verschwand aus dem Wartezimmer in den Behandlungsraum, immer, wenn sich die Tür einen kleinen Spalt breit öffnete und der unsichtbare Arzt einen Namen rief. Da niemand mehr zurück kam, gab es wohl noch einen anderen Ausgang. Hoffte ich.
Endlich erklang aus dem Türspalt ein "Monsieur S-T-E... Sch-D-I..." Ja, das bin ich. Als ich in das zum Behandlungszimmer umgestaltete Wohnzimmer kam - an der Decke hing ein wahrhaft gewaltiger Kronleuchter - saß der Arzt schon wieder hinter seinem Schreibtisch und starre auf einen Computerbildschirm. Unaufgefordert ließ ich mich auf den Polsterstuhl vor ihm fallen und mich von ihm ignorieren, während er angestrengt versuchte, etwas auf seinem Computer zu schreiben. Tippen im Zwei-Finger-Suchsystem scheint Pflichtlehrstoff für Medizinstudenten in aller Welt zu sein. Endlich richtet er sich in einem noch dicker gepolsterten Sessel auf und seinen Blick gelangweilt auf mich:

"Sie sind Ausländer?"

"Ja."

"Da haben Sie Glück, daß Sie hier sind!"

"Äh... Ich bin hier, weil ich krank bin?"

"Jaja. Und da haben Sie Glück, daß Sie hier sind. Die französische Medizin ist die beste der Welt!"

...???...

"Das war sie schon immer. Die meisten medizinischen Entwicklungen kommen aus Frankreich."

Was zum Geier redet der da??

"Und das französische Gesundheitssystem ist so gut, daß es als Vorbild in der ganzen Welt gedient hat!"

Und da passierte es. Ich kam zum falschesten Schluß, zu dem ich nur hätte kommen können. Ich dachte mir: Hey - das meint der doch sarkastisch! Und der falsche Schluß führte zur falschesten Handlung, die ich nur begehen konnte: Um höflich zu sein, fing ich an zu lachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

An dieser Stelle war die Behandlung eigentlich auch schon zu Ende. Nehmen Sie zwei Aspirin und wenn's in einer Woche nicht besser ist - gehen Sie besser zu einem anderen Arzt! Der nächste bitte!

In der Tür wandte ich mich noch einmal um. Der Arzt starrte wieder in seinen Computer, und durch die Tür zum Wartezimmer schob sich bereits eine große, dicke, schwitzende Frau mit kleinen Blümchen auf der Bluse. Eine letzte, kleine Bemerkung warf ich vor dem endgültigen Abschied doch noch in den Raum:

"Aspirin ist aber eine deutsche Erfindung."

3 Kommentare:

  1. Ich wünschte ich wäre Franzose! Diese unverkramfte Art, über sein Land lachen zu können, ist dem Franzosen beneidenswerter Weise angeboren!

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    1. Ja, Franzose zu sein, das wäre sicher das Beste auf der Welt! Da es mir nicht vergönnt ist, bin ich schon vor Neid zerfressen! ;)

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