Samstag, 11. Juni 2016

Zeitenwende

Es gibt diese Momente im Leben, in denen einem schlagartig klar wird: Ab jetzt laufen die Dinge anders. Die Zukunft wird nie wieder sein, was die Vergangenheit war. Zum Beispiel dieser Moment, in dem man zum ersten Mal im Leben von der Verkäuferin beim Bäcker gesiezt wird. Oder in dem man das erste Mal ein Geschlechtsorgan des oppositionellen Geschlechts im real life begutachten kann.

Heute hatte ich wieder einen dieser Momente im Leben. Beim Optiker wollte ich, nachdem meine Sicht mit der Zeit immer verschwommener wurde und auch das Zusammenkneifen der Augen nichts mehr brachte, nach etlichen Jahren mal die Stärke meiner Brillengläser nachjustieren lassen. Die Optikerin gab sich auch geradezu leidenschaftliche Mühe, ließ mich durch Geräte schauen wie noch nie zuvor in meinem Leben, und erklärte mir, meine Sehstärke hätte sich so, mein Astigmatismus so und noch irgendwas, von dem ich noch nie zuvor gehört habe, wiederum so entwickelt. Auf meinen etwas unsicheren Blick hin lächelte sie mich ebenso offen wie freundlich an und verkündet, zum ersten Mal in meinem Leben: "Also, das ist doch gar nicht schlecht - für Ihr Alter!"

Es wird nie wieder so sein wie es war. Die Zeiten des gut und schlecht sind vorüber. Perdu. So wie Tränen im Regen. Ab heute bin ich nicht mehr stark oder schwach, schön oder häßlich, klug oder dumm, gesund oder krank. Was immer ich bin, in Zukunft bin ich es immer nur "für mein Alter".
An diesem traurigen Tag, an dem man dies zum ersten Mal vernimmt, sollte man vom Arbeitgeber freigestellt werden und ein Fest feiern. Vielleicht nennt man es das Nebo-Fest, wenn man erfährt - Du wirst das Gelobte Land schon mal nicht mehr betreten. Alles, was dir noch bleibt, ist, dich auf den letzten Berg hinauf zu schleppen und dann dort zu sterben. An seinem Nebo-Tag sollte man mit einem Lorbeerkranz gekrönt und von allen Leuten, die man kennt, mit hochprozentigen Alkoholika beschenkt werden.
Tja, betrinke ich mich eben aus meinen eigenen Vorräten. Ich vertrage da schon eine ganze Menge. Auf jeden Fall für mein fucking Alter!!

10 Kommentare:

  1. Für Dein Alter bis Du aber noch eine sehr impotente Erscheinung.

    Oder heißt das imposant?

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    1. "'Wie hältst du es, Sophokles, mit der Liebe? Kannst du noch mit einer Frau verkehren?' - 'Still doch, Mensch! Bin ich doch so froh, dem entkommen zu sein, als wär' ich einem rasenden, wilden Herren entlaufen!'"
      (Platon, Der Staat) XD

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  2. Warte nur ab bis der Optiker nach dem Vermessen der Augen das erste Mal "Altersweitsichtigkeit" sagt...

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  3. Das Phänomen kenne ich doch, bei mir fing's auch mit den Augen an. Jedenfalls schön auf den Punkt gebracht. Willkommen im Club!

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  4. Ein Freund traf vor einiger Zeit eine länger nicht gesehene Bekannte auf der Straße und machte, gut erzogen wie er ist, ein Kompliment zur neuen Brille ("Richtig schick! Steht dir gut!"). Und was antwortet die Dame, mit strengem Blick und knurrendem Unterton? "Hör bloß auf! Gleitsicht!"

    Ich hingegen habe mich auf dem Belastungs-EKG für mein Alter ziemlich gut geschlagen.

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  5. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  6. Dieser Post deckt ja doch die Alterserfahrungen der Leser auf! Und ich dachte, DWüdW, das interessiert nur ein junges, hippes Berlin-Mitte-Publikum! :D

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    1. Jajaja, das junge, smoove Berlin-Mitte publikum ist da. Und guckt mit adleraugen drauf, was Du schreibst. Für mein alter kann ich noch relativ gut lesen.

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  7. Dafür hat Ralph McTell sein Streets of London geschrieben ...

    Have you seen the old man
    In the closed-down market
    Kicking up the paper,
    with his worn out shoes?
    In his eyes you see no pride
    Hand held loosely at his side
    Yesterday's paper telling yesterday's news

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  8. Matthias Geschmackstomate4. Juli 2016 um 12:55

    Jaja, Alterserfahrungen... Zum ersten Mal aufgefallen ist mir eine deutliche Veränderung, als ich mit langjährigen Freunden in gemütlicher Runde beisammen saß. Die Themen waren dieselben wie immer: Autos, Fußball, Beruf, Frauen. Bis auf ein paar kleine Details. Anstatt sich wie früher die heißesten Partys und angesagtesten Wochenendlocations zu empfehlen, tauschte man Namen und Adressen von Physiotherapeuten, Urologen und Osteopathen aus. Es geht weiter: unterhält man sich in der Männerrunde zwar weiterhin über Autos, stehen nun aber Inhalte wie „großer Kofferraum“, „sparsamer Motor“, „Sicherheit“ und „intergierter Kindersitz“ ganz im Mittelpunkt des Interesses. Was ist mit den Seitenschwellern, dem GTi-Leuchten und dem Turbolader? Interessiert sich denn keiner mehr für die wirklich interessanten Dinge an den geliebten PS-Boliden? Nein, niemand. Ich fahre seit über 10 Jahren Kombi.

    Ist der Verdrängungsmodus erst einmal deaktiviert, führt kaum ein Weg zurück. In jedem Detail, an jeder Reaktion deiner Umwelt, sind die Signale überdeutlich abzulesen. Ein vorläufiger Tiefpunkt ist erreicht, wenn junge Frauen plötzlich damit beginnen, einen zu siezen. Ab da ist alles vorbei, es gibt ganz und gar nichts Positives, was eine junge Frau zu einem sagen kann, wenn dabei ein „Sie“ mit im Spiel ist - selbst die Bedeutung von Komplimenten ändert sich grundlegend. Sagt ein heißes junges Ding zu einem „Ich finde, Du bist ein attraktiver Mann!“ meint sie damit „Ich bin scharf auf Dich und will Dich mit nach Hause nehmen um hemmungslosen Sex mit Dir zu haben!“ - lautet das Kompliment hingegen: „Ich finde, Sie sind ein attraktiver Mann!“ bedeutet das „Ich will Sie mit nach Hause nehmen um Sie meiner Mutter vorzustellen - sie hatte seit 20 Jahren keinen Sex mehr!“. Der absolute Tiefpunkt ist erreicht, wenn wir das Angebot mit innerer Dankbarkeit erfüllt annehmen...

    Man muss einige grundlegende Tatsachen zu akzeptieren lernen. Zum Beispiel, dass die Währungen „Würde“ und „Coolness“ nicht konvertierbar sind. Will heißen, dass man nicht automatisch cool wird, nur weil man seine Würde bereit ist aufzugeben. Coolness ist nicht käuflich. Ab einem bestimmten Alter ist das Auftreten eines Mannes nur noch digital - es gibt nur zwei Zustände: „würdevoll“ (=steif und langweilig) oder lächerlich (= alles das, was bei jungen Männern cool ist). Diese Information richtet sich an alle Männer eines bestimmten Alters, die sich mit dem Gedanken tragen in Discotheken auf die Suche nach der Jugend zu gehen: die Tanzfläche ist eine verbotene Zone. Ab 45 sind die einzigen musikkoordinierten Körperbewegungen, die ohne Verlust der Manneswürde erlaubt sind, das Einklatschen der Blasmusiker in Bierzelten und eventuell der Wiener Walzer, sofern dieser mit professioneller Körperspannung und stilistisch einwandfreier Schrittfolge vorgetragen wird.

    Körperspannung ist ja auch so ein Thema, das im Alterungsprozess zunehmend unerfreulich wird. Die Begriffe des „Vorruhestandes“ und der „Altersteilzeit“ scheinen auch auf Körpergewebe, Drüsen und Blutgefäße eine bestimmte Wirkung zu haben. Zwar lassen sich gewisse Defizite im äußeren Erscheinungsbild durch entsprechende Kleidung kaschieren - ab einem gewissen Alter verfügen viele über den Geldbeutel und den Geschmack sich vernünftig anzuziehen - voll und ganz befriedigend ist es aber trotzdem nicht. So trägt man vielleicht endlich feine Maßschuhe aus feinstem Rindsleder, wird aber gleichzeitig zum Sitzpinkler - möchte man das luxuriöse Schuhwerk doch nicht mit prostatabedingt schwer koordinierbaren Streuverlusten bei der Blasenentleerung verzieren. Es ist ein Jammer...

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