Donnerstag, 8. Januar 2015

Alles senkrecht

Heute wollen wir uns mal in aller Breite und Ausführlichkeit einem vernachlässigten Thema widmen, einem Thema, dem in der Öffentlichkeit, von der Systempresse und selbst von Russia Today viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird [0]. Es geht um das Thema senkrecht stehen. Also, jetzt wirklich wörtlich gemeint. Ja, gut, zugegeben, auf den ersten Blick scheint das jetzt nicht unbedingt ein Sujet, das spannende und tiefgründige Betrachtungen verspricht.

Was senkrecht stehen bedeutet, das weiß jeder eigentlich gut genug. Trotzdem habe ich sogar ein Bild zur Illustration gemacht, hier, da stehen Türpfosten und Türbalken senkrecht aufeinander:
Ja, dieses Senkrecht-Stehen meine ich. Aber es ist wirklich nur auf den ersten Blick ein langweiliges Thema. Denn wir wollen vom Türrahmen ausgehen und den Begriff senkrecht stehen immer weiter abstrahieren, von jeder Anschauung lösen und in neue Zusammenhänge einführen und dabei sehen, wie weit hinaus wir so kommen können. Das wird ziemlich weit sein, und bei dieser Reise in immer höhere Abstraktionssphären wählen wir den kurzen aber steilen Aufstieg.

Der Leser möge sich also besser schon mal seinen Red Bull Ritalin, Tripel-Espresso oder was auch immer sein persönliches Lieblingserfrischungsgetränk sein mag, bereitstellen, denn heute wird es richtig lang und es wird brutal. Aber zwischendurch gibt es auch mal Bilder in Farbe und am Ende dafür auch noch eine wirkliche Überraschung! Okeeeey? Gut, dann wieder zum Türrahmen und los geht's.

Was ist überhaupt senkrecht?


Fangen wir mit ein paar ganz einfachen Beobachtungen an. Klar, es können nicht nur Türpfosten und -Balken senkrecht zueinander stehen, sondern eine ganze Menge anderer Dinge auch. Was braucht es, damit etwas senkrecht stehen kann? Offenbar braucht es erst einmal zwei Dinge, die senkrecht stehen können. Senkrecht stehen ist ein relativer Zustand zwischen zwei Objekten.

Welche Eigenschaften müssen diese Objekte haben, damit sie zueinander senkrecht stehen können? Der Türrahmen im Bild hat eine ziemliche Dicke, aber ein dickerer oder dünnerer Türrahmen würde genauso senkrecht stehen. Brauchen Objekte eine Dicke, damit sie zueinander senkrecht stehen können? Offenbar nicht, wie dick etwas ist, ist beim senkrecht stehen eigentlich irrelevant.

Wir könnten schon mal eine erste kleine Abstraktion wagen und eine Dicke von Null erlauben. Natürlich hat ein realer, physischer Gegenstand immer eine von Null verschiedene Dicke, aber eine Abstraktion wie eine mathematische Linie, die hat keine Dicke, bzw. eine Dicke von Null. Wie steht es mit der Länge? Die Länge von Türpfosten und -Balken spielen auch keine Rolle, wenn es um's senkrecht stehen geht. Aber wie sieht es bei einer Länge von Null aus? Wenn wir den Pfosten und den Balken immer dünner (und schmaler, genau genommen haben wir ja ein dreidimensionales Objekt vor uns) machen würden und dabei den Balken auch immer kürzer und kürzer, so würden sie immer noch senkrecht zueinander stehen. Selbst wenn die Dicke verschwindet, so bleiben die Beiden doch immer noch senkrecht. Aber wenn auch die Länge des Türbalkens verschwindet? Haben wir keine Dicke (und keine Breite) und keine Länge mehr, dann bekommen wir einen Punkt.

Steht ein Punkt senkrecht auf einer Linie? Das ist jetzt irgendwie nicht so ganz klar. Wir könnten sagen, für etwas mit der Länge Null ist senkrecht sein mit etwas anderem nicht definiert. Oder wir könnten es selbst definieren, wir könnten festlegen, daß etwas ohne Länge zu nichts senkrecht ist oder zu allem. Am besten ist es, wir legen fest, daß etwas ohne Länge zu allem senkrecht ist. Warum das am besten ist, werden wir später noch klar sehen. Was wir hier aber sehen ist, daß wir auf die Dicke verzichten können, wenn es um's senkrecht stehen geht und die Länge auch egal ist solange sie größer als Null bleibt, ansonsten wird es ein bisschen irritierend. Und wir sehen, daß es, wollen wir uns dem Phänomen des senkrecht Stehens weiter nähern, besser ist, wenn wir uns von der Betrachtung physischer Objekte lösen. Denn diese haben ja immer Dicken und Längen und enthalten damit Zutaten, die wir nicht brauchen uns uns höchstens den Blick verstellen.

Vektoren und Skalarprodukte


Wir sollten unsere Betrachtungen auf ein erstes abstraktes Niveau heben und eher mathematisch angehauchte Objekte betrachten, bei denen wir - zumindest in Gedanken - Überflüssiges einfach weglassen können. Betrachten wir also statt Türrahmen lieber Strecken oder Linien oder sowas, und gucken da nach dem senkrecht stehen.

Zeichnen wir also zwei senkrecht aufeinander stehende Linien. Oder besser, wir zeichnen zwei senkrecht aufeinander stehende Pfeilchen. Diese Pfeilchen nennen wir "Vektoren", das wird sich später als sehr nützlich erweisen. So sieht das also mitunter aus, ganz simpel:
Die Pfeilspitzen sind hier nur dazu da, gewisse verschüttete Assoziationen mit der Schulmathematik wieder hervorzubringen, denn dort zeichnete man Vektoren so an die Tafel, weiter sind sie für nichts gut. Toll. Aber anfangen können wir damit noch nicht viel. Um das senkrecht stehen der beiden Pfeilchen, also "Vektoren", irgendwie greifbar zu machen, ist es notwenig, sie auf irgendeine Weise in Zahlen zu fassen.

Der übliche und praktische Weg dazu ist, ein Koordinatensystem mit x- und y-Achse über die Pfeile zu legen. Die Werte, die die Pfeilenden auf den beiden Achsen einnehmen, legen sie dann jeweils genau fest. Das könnte dann zum Beispiel so aussehen:
Der blaue Pfeil hat auf der x-Achse den Endpunkt -0.58, auf der y-Achse den Endpunkt 0.81. Bei roten Pfeil sind es 1.8 und 1.3. Diese beiden Zahlenpaare (-0.58, 0.81) und (1.8, 1.3) beschreiben die Pfeile genau. Kennt man sie, so kann man sich ein Koordinatensystem zeichnen und die beiden Pfeile eintragen.

Wenn es aber nun möglich ist, die anschaulichen Pfeilchen-Vektoren durch Zahlenpaare genau festzulegen, dann können wir an dieser Stelle einen weiteren Abstraktionsschritt machen: Der Vektor ist nicht der Pfeil, der als Zahlenpaar dargestellt werden kann - der Vektor ist das Zahlenpaar. Mehr als das Zahlenpaar braucht es zum Vektor nicht, und das Zeichnen als Pfeilchen in ein Diagramm ist nur die Veranschaulichung eines abstrakteren Verständnisses von Vektoren. Und wenn ein Zahlenpaar alles enthält, was im anschaulichen Pfeilchen auch drin ist, dann sollten die Zahlenpaare auch das Konzept des senkrecht Stehens irgendwie mit beinhalten!

Offenbar können wir also nach Dicke und Länge noch ein weiteres überflüssiges Beiwerk fahren lassen, das uns den Blick aufs Wesentliche verstellt. Verabschieden uns auch von Linien, Pfeilen oder was auch immer! Ein Vektor ist ein abstrakteres Gebilde als ein Pfeil, er ist ein Zahlenpaar. Und wenn wir mehr als zwei Achsen haben (z.B. drei, wenn wir die Pfeilchen nicht in einer Ebene, sondern im Raum betrachen), dann ist ein Vektor eben eine Anordnung von mehr Zahlen (z.B. drei, im Raum). Die Anzahl der Zahlen in einer solchen Anordnung heißt dann die "Dimension". Der Einfachheit halber bleiben wir im weiteren aber bei Zahlenpaaren, d.h. der Dimension zwei.

Einen großen Vorteil, den uns diese abstraktere Betrachtungsweise von Vektoren als Zahlenanordnungen bietet, ist, daß wir sie nun nicht mehr nur anschaulich zeichnen, sondern mit ihnen richtig rechnen können. Mit dieser Möglichkeit haben wir ein sehr starkes Werkzeug in der Hand und können der wahren Natur hinter dem Konzept des senkrecht Stehens viel näher kommen.

Eine Größe, die man aus zwei Vektoren, d.h. zwei Zahlenpaaren, ausrechnen kann, heißt das "Skalarprodukt". Diese Berechnung ist sehr einfach: man multipliziert die erste Komponente (d.h. die erste Zahl) des ersten Vektors mit der ersten Komponente des zweiten Vektors, die zweite Komponente des ersten Vektors mit der zweiten Komponente des zweiten Vektors (und wenn man mehr Dimensionen hat, die dritte Komponentemit der dritten Komponente, usw. u.s.f.). Dann addiert man alle Ergebnisse der Multiplikationen und erhält eine Zahl. Diese nennt man eben das Skalarprodukt der beiden Vektoren [1]. Und diese Zahl ist sehr nützlich.

Nehmen wir noch mal das Beispiel aus der letzten Abbildung. Wir halten den roten Vektor fest und drehen den blauen Vektor - ganz anschaulich gemeint -  im Kreis herum. Dabei berechnen wir immerfort das Skalarprodukt des roten mit dem blauen Vektor. Das sieht dann so aus:
Beim längeren Hinsehen fällt etwas auf: Immer und nur dann, wenn der rote und der blaue Vektor im anschaulichen Sinne senkrecht aufeinander stehen, ist ihr Skalarprodukt Null! Das bietet jetzt eine interessante Möglichkeit, in der Abstraktion fortzufahren. Wir müssen dazu diese Beobachtung einfach nur umdrehen: Statt festzustellen, "wenn die Vektoren anschaulich senkrecht aufeinander stehen, ist ihr Skalarprodukt Null", legen wir fest: "Zwei Vektoren stehen genau dann senkrecht aufeinander, wenn ihr Skalarprodukt Null ist". Dann haben wir eine kristallklare mathematische Definition, was senkrecht stehen bedeutet. Und diese Definition deckt sich auch gut mit der anschaulichen Vorstellung zweier senkrechter Linien, wenn wir die abstrakten Vektoren der Zahlenpaare anschaulich als Pfeilchen zeichnen.

Wir haben also schon einen guten Weg der Abstraktion geschafft: Von physischen Objekten über senkrechte Linien hin zu Zahlenpaaren, die senkrecht stehen, wenn ihr Skalarprodukt Null ist.

Und übrigens hatten wir am Anfang ja gesagt, es sei am besten, wenn wir festlegen, daß etwas mit der Länge Null zu allem senkrecht steht. Warum das am Anfang am besten war, sehen wir jetzt: Das einzige Zahlenpaar mit der Länge Null ist das Paar (0,0). Und wenn wir das Skalarprodukt zwischen diesem Zahlenpaar und einem beliebigen anderem Paar ausrechnen, dann ist das Ergebnis immer Null. Und da wir ja eben definiert haben, daß ein Zahlenpaar/Vektor genau dann senkrecht auf einem anderen steht, wenn das Skalarprodukt zwischen ihnen Null ist, und da das Skalarprodukt von (0,0) mit allen anderen Zahlenpaaren Null ist, steht das Paar (0,0) eben automatisch senkrecht auf allen anderen. Das anfangs leicht irritierende Problem, ob ein Punkt senkrecht auf etwas anderem steht oder nicht, hat sich mit der klaren Definition von senkrecht stehen von selbst erledigt.

Noch abstrakter: Funktionen


So weit, so gut. Einen weiteren großen Abstraktionsschritt haben wir allerdings noch vor uns. Vom Vektor als Pfeil sind wir zum Zahlenpaar gelangt, das unser neuer Vektor ist. Jetzt müssen wir noch von Zahlenpaaren zu einem noch abstrakteren Vektorenbegriff gelangen. Um diesen ausstehenden Schritt zu illustrieren, hilft es vielleicht, an ein Spiel zu denken.

Nehmen wir mal eine berühmte Partie aus der Schachgeschichte, sagen wir mal, die Unsterbliche Partie. Diese Schachpartie wurde am 21. Juni 1851 von den Herren Anderssen und Kieseritzky an einem Schachbrett auf einem Tisch in einem Café in London gespielt. Nun gibt es heute das Café und die benutzten Schachfiguren nicht mehr, und auch die Herrn Anderssen und Kieseritzky und jeder andere, der das Spiel der Beiden damals gesehen hat, ist längst nicht mehr. Die gespielte Partie aber, die gibt es immer noch, sie heißt ja nicht ganz zu unrecht Die Unsterbliche.

Der Punkt, auf den es hinauslaufen soll, ist, die Schachpartie ist nicht das, was zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort mit greifbaren Figuren vor irgendwem stand, sie ist vielmehr etwas Abstrakteres. Die Partie ist eine Abfolge bestimmter Züge: 1. e2 - e4 e7 - e5 2. f2 - f4 e5 × f4 usw. Und da die Züge aufgezeichnet wurden, kann diese Partie heute noch nachgespielt werden. Jeder, der sich ein Schachspiel nimmt und diese Züge ausführt, schafft dabei gewissermassen eine neue Realisierung der abstrakten Unsterblichen Partie. Und dabei spielt es keine Rolle, ob er ein Schachspiel im klassischen Look aus dem Discountermarkt, eines im minimalistischen Design aus Platin oder ein Star Wars-Schachbrett benutzt. Die Partie ist etwas Abstraktes, das durch eine Folge von Zügen gegeben ist, und das durch ganz verschiedene Figuren realisiert werden kann.

Und so steht es auch um die Vektoren. Ein Vektor ist weder ein Pfeil noch ein Zahlenpaar, ein Vektor ist ein abstraktes Gebilde, das durch bestimmte Regeln gegeben ist [2]. Und dieses Gebilde kann im einzelnen durch ganz unterschiedliche Objekte realisiert werden. Wichtig ist nur, daß diese Objekte den Regeln für Vektoren gehorchen, dann ist es auch ein Vektor. Zu den Objekten, die Vektoren realisieren können, gehören die Zahlenpaare, und diese sind über die Verbindung zu Pfeilchen noch ziemlich nahe an einer Anschauung. Es gehören aber auch ganz andere Objekte dazu, die sich weiter von einer anschaulichen Vorstellung entfernt haben. Einer anderen Art von Objekten, die auch Vektoren darstellen, müssen wir uns nun zuwenden, auch wenn es (noch) weniger anschaulich wird. Diese Objekte sind Funktionen.

Was eine Funktion ist, weiß man vielleicht doch noch aus der Schulmathematik, denn da begegnen sie einem auch zuhauf, etwa in der Form f(x) = 3x + 2 oder f(x) = x2 oder f(x) = 1/x. Eine Funktion f ist einfach eine Zuordnungsvorschrift, die einem Wert x einen anderen Wert, f(x), nach einer festen Regel zuordnet. Diese Funktionen kann man dann auch als eine Kurve in ein Diagramm einzeichnen. Auf die waagerechte (x-)Achse kommt der Wert von x, auf der senkrechten (y-)Achse der zugehörige Wert f(x).

Solche Funktionen können nun, auch wenn man es spontan nicht vermuten sollte, ebenfalls Vektoren darstellen, genauso wie Pfeilchen oder Zahlenpaare. Also, nicht alle Funktionen, aber sofern sie gewisse Bedingungen erfüllen, die sicherstellen, daß sie "gutartig" genug sind, dann realisieren auch sie das abstrakte Konzept des Vektors [3]. Und wie andere Realisierungen von Vektoren auch, können Funktionen senkrecht aufeinander stehen, nämlich dann, wenn das Skalarprodukt der beiden betrachteten Funktionen Null ist [4].

Natürlich berechnet sich das Skalarprodukt jetzt ganz anders als bei den Zahlenpaaren. Es ist gegeben durch das Integral über das Produkt der beiden Funktionen. Das Integral ist anschaulich einfach nur die Fläche zwischen dem Graphen der Funktion und der x-Achse des Diagramms. Vielleicht erinnert sich noch wer aus der Schule daran, wie man ein diese Fläche, also das Integral einer Funktion, im einzelnen ausrechnet. Wenn nicht, auch egal. Man möge einfach darauf vertrauen, daß man den Inhalt dieser Fläche halt irgendwie ausrechnen kann, wenn man die Funktion kennt.

An dieser Stelle wäre wohl ein Beispiel angebracht. Nehmen wir zwei Funktionen einer Variablen x, nennen wir sie y1(x) und y2(x). Die Graphen dieser zwei Funktionen können wir in ein Diagramm eintragen,  y1(x) in rot, y2(x) in blau.  Jetzt machen wir dasselbe wie im früheren Fall mit den Pfeilchen: y1(x) halten wir fest. Sie entspricht dem roten Pfeil in der letzten Darstellung. Die zweite Funktion "drehen" wir dann im Kreis herum und berechnen dabei fortwährend das Skalarprodukt von  y1(x) und y2(x). Das ist der Flächeninhalt der grau unterlegten Fläche in der nächsten Abbildung (die Flächen unter der x-Achse haben negativen Flächeninhalt!) . Mit ausgesucht hübschen Funktionen könnte das dann z. B. so aussehen:

Auch wenn diese Animation auf den ersten Blick ganz anders aussieht als die vorige Animation mit den Pfeilchen - von einem hinreichend abstrakten Standpunkt aus zeigt sie ganz genau dasselbe. Es ist die selbe Schachpartie, nur mit anders aussehenden Figuren gespielt. Was vorher die Pfeile waren, sind jetzt die Funktionen, und das Drehen der blauen Funktion um die rote herum ist nicht mehr so anschaulich wie beim blauen und dem roten Pfeil. Dennoch passiert mathematisch genau dasselbe. Und das die blaue Funktion  y2(x) senkrecht auf der roten Funktion y1(x) steht, erkennt man (nur) daran, daß das berechnete Skalarprodukt Null ist. Genau das war ja unsere Definition von "senkrecht stehen".

Damit haben wir unsere abstrakte Reiseflughöhe auch endlich erreicht. Vom anschaulichen Begriff des Senkrecht-Stehens sind wir dahin gekommen, daß alle möglichen "Dinge" senkrecht zueinander stehen können, wenn gewisse, mathematisch formulierbare Beziehungen zwischen ihnen bestehen. Insbesondere können Funktionen, also so etwas abstraktes wie Vorschriften, die einer Zahl eine andere Zahl zuordnen, in einem abstrakten Sinne senkrecht zueinander sein. 

Und was soll das jetzt alles?


An dieser Stelle wäre eigentlich eine Verschnaufpause mit etwas entspannenderem Text angebracht. Dummdidumm, dummerweise fällt mir aber gerade hier nichts Entspannendes ein. Denn die Frage, die sich hier stellt, lautet ja: Ist das mit den senkrecht zueinander stehenden Funktionen nur eine mathematische Spielerei? Naja, haha, in dem Falle hätten wir uns bestimmt nicht all die Mühe bis hierher gemacht.

Tatsächlich haben solche Funktionen eine kaum zu überschätzende Bedeutung. Aber um zu verstehen, warum sie wichtig und etwas besonderes sind, muß man erst sehen, woher sie kommen, wo in der Mathematik gewissermaßen das Nest steht, aus dem solche Funktionen schlüpfen. Und um dieses Nest zu finden, müssen wir uns noch mal kurz anstrengen, bevor es dann wieder ruhiger wird.

Der Ursprung senkrecht stehender Funktionen ist eine bestimmt Art von mathematischer Gleichung. Diese Gleichungen bestimmen nicht einfach eine Zahl, wie man das als erstes im Sinn hat, wenn man an eine Gleichung denkt. Da denkt man wohl eher an eine Gleichung wie 2x = 10. Dort ist die Lösung x eine Zahl, nämlich 5 (im Einklang mit der Konvention). Eine Gleichung kann aber auch nicht nur eine Zahl, sondern eine ganze Funktion festlegen. Z. B. in der Form "Gesucht ist die Funktion, deren Änderung an jedem Punkt 10 ist".

Nennt man die gesuchte Funktion f(x) und die Änderung der Funktion an jeder Stelle f'(x), dann lautet die Gleichung f'(x) = 10, und ihre Lösung ist eine Funktion f(x), die diese Gleichung erfüllt. In diesem Fall gibt es eine ganze Reihe von Funktionen, die diese Gleichung lösen, nämlich alle Funktionen der Form f(x) = 10x + c, wobei c eine beliebige Konstante ist. Damit als Lösung eine einzige Funktion festgelegt ist, braucht es noch eine zusätzliche Angabe, z.B. den Wert der Funktion an einer bestimmten Stelle, einem bestimmten Wert von x. Also z.B. f'(x) = 10 und f(0) = 3. Dieses Problem hat eine eindeutige Lösung, nämlich die Funktion f(x) = 10x + 3.

Zueinander senkrecht stehende Funktionen ergeben sich nun als Lösungen eines Problems, bei denen die Gleichung und die Zusatzbedingungen eine bestimmte Form haben. Wie diese Form genau aussieht, soll jetzt mal nicht weiter interessieren [5]. Heißen tut ein solches Problem, also die Frage nach den Lösungen einer solche Gleichung mit den entsprechenden Zusatzbedingungen, auf jeden Fall "Sturm-Liouville-Problem". Und diese Sturm-Liouville-Probleme haben eine wichtige Eigenart, sie enthalten einen freien Parameter (d.h. eine zunächst unbestimmte Zahl), und allgemeine Lösungen (d.h. Funktionen, die die Gleichung samt Zusatzbedingungen erfüllen) gibt es nur für ganz bestimmte Werte dieses freien Parameters. Diese Werte, für die ein solches Problem Lösungen hat, nennt man dessen "Eigenwerte", und die zugehörigen Lösungsfunktionen die "Eigenfunktionen" [6].

Typischerweise gibt es eine ganze Serie von Eigenwerten mit einer Serie von zugehörigen Eigenfunktionen. Neben diesen Eigenfunktionen sind auch alle möglichen aus ihnen gebildeten Überlagerungen Lösungen. Eine "Überlagerung" meint hier, daß man (beliebig viele) Eigenfunktionen mit (beliebigen) Faktoren multipliziert und dann addiert (eine "Überlagerung" dieser Form heißt eigentlich korrekt "Linearkombination"). Und der für uns interessante Teil ist: Diese Serie von Eigenfunktionen, die man als Lösungsfunktionen eines solchen Problems erhält, die stehen alle senkrecht aufeinander! Jede Lösung eines Sturm-Liouville-Problems besteht daher aus zueinander senkrecht stehenden Funktionen bzw. Kombinationen solcher Funktionen.

Nun ist ein Sturm-Liouville-Problem, wenn man die Vielfalt aller mathematischen Probleme bedenkt, ein sehr spezieller Fall. Andererseits fallen sehr viele in Naturwissenschaft und Technik auftretenden Probleme in ihrer mathematischen Formulierung in genau diese Klasse der Sturm-Liouville-Probleme. Und dementsprechend finden sich zueinander senkrecht stehende Funktionen als Lösung naturwissenschaftlich-technischer Probleme, auch wenn dies meist keine große Beachtung findet, nahezu überall.

Das Schwerkraftfeld eines unregelmäßig geformten Körpers, etwa eines Asteroiden, wird immer durch eine Überlagerung zueinander senkrecht stehenden Funktionen beschrieben, egal wie er im einzelnen aussieht. Die Temperaturverteilung in vielen Objekten wird durch eine Überlagerung von zueinander senkrecht stehenden Funktionen beschrieben. Die Schwingungen einer Gitarren- oder Klaviersaite wird sowohl räumlich als auch zeitlich durch Überlagerungen zueinander senkrecht stehender Funktionen beschrieben.

Ein Beispiel: Schwingende Saiten


Vielleicht machen wir hier eine kleine Pause und gucken wir uns dieses letzte hübsche Alltagsbeispiel zur Illustration noch mal kurz genauer an.

Die Saiten, die wir betrachten wollen, sind an zwei Enden fest eingespannt und sie können sich dort nicht bewegen. Dieses Eingespannt sein stellt die Zusatzbedingungen dar, die man zur Lösung eines Sturm-Liouville-Problems braucht. Die Aufgabe besteht nun darin, zu bestimmen, wie sich die Auslenkung der Saite aus der Ruhelage mit dem Ort x entlang der Saite und mit der Zeit t beschreiben lässt. Diese Auslenkung sei durch eine gesuchte Funktion f(x,t) beschrieben.

Man muß nun mit etwas Physik eine Gleichung finden, die diese gesuchte Funktion f(x,t) erfüllt. Sagen wir mal, wir hätten das im Detail schon irgendwie erledigt. Diese Gleichung in Raum und Zeit kann man dann in zwei Einzelgleichungen herunter brechen, eine für die Zeitabhängigkeit, f1(t), und eine für die Ortsabhängigkeit, f2(x). Jede dieser Einzelgleichungen stellt mit den Zusatzbedingungen (die zwei Orte, an denen die Saite fest eingespannt ist) ein Sturm-Liouville-Problem dar. Und wie schon gesagt, hat ein solches Problem für bestimmte Werte eines freien Parameters, den Eigenwerten, ganz allgemein Lösungen, die Eigenfunktionen.

Demnach kann eine Saite nicht beliebig schwingen, sondern nur in einer diskreten Serie von möglichen Schwingungen, bzw. in Form von Überlagerungen dieser grundlegenden Schwingungen. Die erste grundsätzliche Lösung ist die Eigenfunktion zum niedrigsten Eigenwert. In der Physik heißt diese Lösung die "Grundschwingung", in der Musik entspricht ihr die Prime. Dann folgen die Lösungen für größer werdende Eigenwerte. In der Physik heißen sie die "Oberschwingungen". Die erste Oberschwingung der Physik z. B. ist in der Mathematik die Eigenfunktion zum Eigenwert 2  eines Sturm-Liouville-Problems und in der Musik die Oktave [7].

Eine Illustration hilft an dieser Stelle vielleicht ein bisschen. So sehen mögliche Schwingungen einer eingespannten Saite in Raum und Zeit aus (die Amplitude der Schwingungen ist im Vergleich zu einer realen Saite hier natürlich beachtlich überhöht und die Geschwindigkeit reduziert):
Das obere Panel zeigt die Grundschwingung, d.h. die Eigenfunktion zum ersten Eigenwert, das mittlere Panel die erste Oberschwingung, d.g. die Eigenfunktion zum zweiten Eigenwert. Diese beiden Funktionen stehen (räumlich und zeitlich) senkrecht zueinander. Das untere Panel zeigt als Beispiel eine der möglichen Überlagerungen von Grundschwingung und erster Oberschwingung. Dies ist eine der (im Prinzip unendlich vielen) erlaubten Bewegungen der Saite, und sie setzt sich eben aus zwei zueinander senkrecht stehenden Funktionen zusammen. Die erwähnten Zusatzbedingungen entsprechen der Tatsache, daß die Saite an beiden Endpunkten fixiert ist.

Wie genau eine bestimmte Saite nun schwingt, ist aus den bisherigen Betrachtungen noch nicht eindeutig entschieden. Um das zu wissen, braucht es noch etwas mehr an Zusatzinformationen als nur zu wissen, wo die Saite eingespannt ist. Etwa das Wissen darüber, wie sie angezupft oder angeschlagen wurde. Diese Information könnte etwa in Form einer Angabe des Zustands der Saite zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgen, etwa welche Form die Saite in dem Moment hatte, als sie nach dem Zupfen wieder losgelassen wurde. Mit solchem Wissen ist die Bewegung der Saite dann eindeutig in Raum und Zeit festgelegt. Und wie immer sie im Einzelnen aussehen mag, sie ist immer die Überlagerung aus zueinander senkrecht stehender Eigenfunktionen, der Grundschwingung und den Oberschwingungen.

Eine Anwendung: Datenkompression


Neben ihrer weiten Verbreitung in allen möglichen konkreten Problemen [8] gibt es noch einen anderen Grund, der solche Serien zueinander senkrecht stehender Funktionen interessant macht. Eine solche Serie hat die schöne Eigenschaft, daß man, wenn die einzelnen Funktionen der Serie geeignet überlagert (d.h. die einzelnen Funktionen der Serie mit den richtigen Gewichtungsfaktoren multipliziert und dann addiert), jede beliebige (hinreichen gutartige) Funktion beliebig genau durch diese Überlagerung annähern kann. Je mehr Funktionen aus der Serie man addiert, desto besser wird die Annäherung.

Diese Eigenschaft senkrecht stehender Funktionen hat große praktische Bedeutung, da ist ein Beispiel angebracht. Nehmen wir mal eine einfache Serie von zueinander senkrechten Funktionen, nämlich Kosinusfunktionen mit sich systematisch erhöhender Frequenz auf einem Intervall, hier dem Intervall von 0 bis 1000. Zur Verdeutlichung, die erste, zweite und sechste dieser Funktionen (d.h. die Eigenfunktionen zum 1., 2. und 6. Eigenwert des entsprechenden Sturm-Liouville-Problems) sehen so aus:
In diesem Fall hat man es einfach mit einer Serie von Schwingungen zunehmender Frequenz zu tun, ähnlich wie bei der Saite vorhin, nur mit Kosinus- statt Sinusfunktionen. Addiert man nun genug Funktionen dieser Serie auf, wobei jede einzelne Kosinusfunktion dabei mit einem Koeffizienten gewichtet werden muß, dann kann man (nahezu) jede beliebige Funktion beliebig gut annähern. 

Nehmen wir dazu ein kleines Beispiel, die etwas künstlich gewählte, als schwarze Linie gezeichnete Funktion in der nächsten Abbildung. In rot dazugerechnet ist die beste Annäherung an diese Testfunktion, die sich durch Addition einer zunehmenden Anzahl von Kosinusfunktionen der oben erwähnten Serie erreichen lässt. Der untere Teil der Abbildung zeigt dabei die Werte der Gewichtungskoeffizienten:
Man sieht, wie sich die Summe der Kosinusfunktionen mit größer werdender Anzahl immer besser an die "Zielfunktion" - das schwarze Haus - anpasst. (Man merkt auch, daß Sprünge und Kanten dabei besonders schwierig anzunähern sind, sie lassen sich nicht gut durch "glatte" Funktionen wie Kosinusfunktionen wiedergeben.)

Dieses Verhalten kann man sich etwa zu Nutze machen, wenn man Daten komprimieren will. Wenn mir die Genauigkeit der Wiedergabe des Häuschens mit, sagen wir, 200 Kosinusfunktionen genügt, dann kann ich statt der 1000 Punkte, aus dem die Hausfunktion in diesem Beispiel aufgebaut ist, nur die 200 Koeffizienten der Kosinusfunktionen speichern. Die Kosinusfunktionen selbst sind ja fest gegeben und man kann sie sich auf jedem beliebigen Computer erzeugen. Kenne ich nun die Koeffizienten der Entwicklung des Bildes, so kann ich mir damit das Bild, hier das Haus, auf jedem Computer rekonstruieren. Und reicht mir die Genauigkeit, die mit 200 Funktionen in der Summe erreicht wird, als Bildqualität aus, dann muß ich nur 200 Zahlen kennen, um das Bild zu erzeugen, und nicht mehr alle 1000 Punkte des ursprünglichen Bildes. Der Speicherbedarf für das Bild ist dadurch von 1000 auf 200 Zahlen auf ein Fünftel des ursprünglichen Wertes gesunken!

Und die in diesem Beispiel gezeigten Kosinusfunktionen werden auch tatsächlich zur Kompression von Daten benutzt, etwa bei der Darstellung von Bildern im JPEG-Format. Das tatsächliche Vorgehen ist dabei schon etwas komplizierter und durchdachter als hier ganz plakativ gezeigt, die Idee dahinter bleibt aber dieselbe. Wer's genauer wissen will, kann ja bei der Wikipedia nachgucken.

Zueinander senkrecht stehende Funktionen finden sich also allerorten, sei es, weil Probleme der Naturwissenschaften solche Funktionen als Lösungen haben, sei es, weil man sich in technischen Anwendungen ihre praktischen Eigenschaften zunutze machen möchte. Nur sieht man sie halt nicht oft, denn wer interessiert sich schon für das Schwerefeld von Asteroiden, die mathematische Beschreibung einer Gitarrensaite oder dafür, was der Computer genau tut, wenn man ein Bild im JPEG-Format abspeichert?

Ans Eingemachte: Quantenmechanik


Nun geht aber die Bedeutung zueinander senkrecht stehender Funktionen noch über das bisher gesagte hinaus. Das liegt daran, daß es eine naturwissenschaftliche Theorie gibt, in der Sturm-Liouville-Probleme nicht nur irgendwo irgendwie vorkommen, sondern in der sie ganz explizit im Zentrum der Theorie stehen. Die Grundgleichung dieser Theorie, die für alle von ihr beschreibenden Situationen gilt, hat unmittelbar die Form eines Sturm-Liouville-Problems. Und somit führt die Theorie immer auf Serien zueinander senkrecht stehender Funktionen und Überlagerungen aus diesen. Und diese Theorie ist ein zentraler Pfeiler des heutigen naturwissenschaftlichen Weltbildes, es ist die Quantenmechanik [9].

In der Quantenmechanik wird jedes Problem (mit nicht explizit zeitabhängigen Potential, das seit im folgenden immer vorausgesetzt) durch die (zeitunabhängige, haben wir ja gerade so vorausgesetzt) Schrödingergleichung beschreiben. Diese Gleichung hat als Lösung eine Funktion, aus der sich beobachtbaren Eigenschaften des Problems ergeben. Zusammen mit physikalisch sinnvollen Zusatzbedingungen ergeben sich aus dieser Gleichung immer Sturm-Liouville-Probleme [10].

An dieser Stelle kann man auch erahnen, weshalb die Quantenmechanik Quantenmechanik heißt. Denn wir hatten ja schon darauf herumgeritten, daß ein Sturm-Liouville-Problem nur für die Eigenwerte Lösungen besitzt, und die Eigenwerte und die zugehörigen Eigenfunktionen Serien bilden. Bei der Saite folgte daraus, daß sie nur in einer Überlagerungen von Grund- und Oberschwingungen schwingen kann. Für das Problem mit der Schrödingergleichung heißt das nun, daß ein quantenmechanisches System nur eine Serie von bestimmten Zuständen einnehmen kann, eben die Eigenfunktionen zur Serie der Eigenwerte.

Im Prinzip wären auch beliebige Überlagerungen aus diesen Eigenfunktionen möglich, aber eine ganz bemerkenswerte Eigenschaft der Quantennatur ist, daß man diese Überlagerungen von Eigenfunktionen nicht beobachten kann. Darauf kommen wir gleich noch mal zurück. Aber wir haben damit schon mal, was man mit "Quanten" meint: Nur bestimmte, diskrete Zustände, die Eigenfunktionen zu den Eigenwerten eines Sturm-Liouville-Problems, sind beobachtbar. Diese Eigenwerte des aus der Schrödingergleichung resultierenden Sturm-Liouville-Problems haben dabei eine physikalische Interpretation, sie sind die Werte für die Energie des betrachteten physikalischen Systems. Das ein solches Problem nur Lösungen für bestimmte Werte eines freien Parameters haben kann, eben den Eigenwerten, bedeutet, daß ein quantenmechanisches System nicht beliebige Energien haben kann, sondern nur ganz bestimmte Energiewerte (die Eigenwerte des zugehörigen Sturm-Liouville-Problems eben).

Das gilt noch allgemeiner: Was man alles beobachten kann, das sind immer Eigenwerte, und nicht die Eigenfunktionen. Und daher ist alles, was man in der Quantenmechanik messen kann, grundsätzlich einer Einteilung in diskrete Werte unterworfen. Dies ist eben die "Quantelung", die der Theorie zu ihrem Namen verholfen hat. Im Formalismus der Theorie ist sie tief eingebaut, in der mathematischen Natur der Grundgleichung.

Wenn man nun die Quantenmechanik ernst nimmt und sie tatsächlich als eine grundlegende Theorie des Universums begreift [11], dann hat das eine ganz unmittelbare Konsequenz. Die Quantenmechanik hat ein Sturm-Liouville-Problem an ihrer Wurzel und Lösungsfunktionen eines Sturm-Liouville-Problems führen immer zu Serien von zueinander senkrecht stehenden Funktionen. Ist die Quantenmechanik eine grundlegende Theorie, die im Prinzip alles im Universum beschreibt, dann wird einfach alles im Universum durch Überlagerungen von zueinander senkrecht stehenden Funktionen beschrieben!

Ein "Schönheitsfehler"


An dieser Stelle sollten wir uns jetzt das erwähnte Problem mit den Serien von Eigenfunktionen, deren Überlagerungen und den beobachteten Eigenwerten ansehen. Wie ja oft genug gesagt, ergeben sich aus einem Sturm-Liouville-Problem Serien von fundamentalen Lösungsfunktionen, die Serie von Eigenfunktionen zu der Serie von Eigenwerten, sowie die Überlagerungen, die "Linearkombinationen" aus diesen als weiteren Lösungen.

Die genaue Lösung eines konkreten Problems braucht, wie am Beispiel der Saite erwähnt, noch weitere Zusatzinformationen, erst damit ist die im Einzelfall gültige Überlagerung der Eigenfunktionen genau und eindeutig festgelegt. Macht man nun ein quantenmechanisches Experiment, dann bedeutet das, wie erwähnt, die Bestimmung eines Eigenwerts eines Sturm-Liouville-Problems. Und wie auch schon erwähnt, erhält man als Ergebnis einer Messung immer genau und nur einen Eigenwert. Und zwar selbst dann, wenn die exakte Lösung des Sturm-Liouville-Problems eigentlich eine Überlagerung verschiedener Eigenfunktionen zu verschiedenen Eigenwerten ist.

Hier ist sowas wie ein hässlicher Bruch der reinen Theorie durch die Natur. Wenn die Lösung eine Überlagerung von Eigenfunktionen zu verschiedenen Eigenwerten ist, warum messe ich dann nicht auch eine Überlagerung der zugehörigen Eigenwerte? Warum und wie macht die Natur das, daß sie sich dann bei einer Messung für nur einen einzigen, reinen Eigenwert entscheidet? Ach ja, und für welchen Eigenwert aus der Überlagerung entscheidet sie sich dabei eigentlich?

Die letzte Frage räumen wir schnell ab. Es sieht für den Experimentator so aus, als ob sich die Natur zufällig für einen Eigenwert aus der Überlagerung entscheidet, mal diesen, mal jenen. Alles, was man bestimmen kann ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmter Eigenwert gemessen werden wird. Die Quantenmechanik bietet da die Möglichkeit, diese Wahrscheinlichkeit genau auszurechnen, sie hängt vom Gewichtungsfaktor der jeweiligen Eigenfunktion in der Überlagerung ab. Aber das war's dann auch schon, mehr kann die Physik nicht bieten.

Was nun die Frage angeht, wie genau die Natur es hinbekommt, sich in einer Messung (scheinbar?) zufällig für einen Eigenwert zu entscheiden, das ist genau genommen nicht mehr Teil der Physik. Hier driftet man ganz langsam ins Philosophische ab, denn was jenseits der Messung liegt, das ist ja per Definition nicht beobachtbar, sonst wär's ja eine Messung.

Ausflug in die Metaphysik


Hier beginnt die Metaphysik in jedem Sinne des Wortes. Weitere Überlegungen führen schnell zu Metatheorien, zu Theorien über physikalische Theorien und was sie eigentlich beschreiben und was in ihnen zur Realität gehört und was nicht. Wenig philosophisch veranlagte Physiker brechen eine Diskussion solcher Metatheorien unter dem simplen Slogan Halt die Klappe und rechne einfach ab. Denn wirklich dringend benötigt werden solche Theorien nicht. Alles, was es in der Praxis für Experimente und Anwendungen braucht, das sind die Eigenwerte des Problems und die Wahrscheinlichkeiten, mit denen sie als Ergebnis einer Messung auftreten. Diese zu ermitteln ist vor allem erst einmal eine Frage des wissenschaftlichen Handwerks, und fertig.

Aber Hand auf's Herz - so sehr sie auch gerechtfertigt sein mag, so richtig erfüllend ist diese Haltung gegenüber der Quantenmechanik nicht. Denn die Grundmotivation für die Wissenschaft ist es doch nicht, irgendwelche Zahlen vorherzusagen, die Schublanden in Museumssammlungen nach einem ordentlichen System zu befüllen oder auch nur eine tolle neue Maschine zu bauen. Ganz tief im Grunde steckt auch hinter der Naturwissenschaft immer die Hoffnung, ein klein wenig davon zu verstehen, wie die Welt den letztlich und "wirklich" funktioniert.

Würde man Fragen nicht mehr stellen, nur weil man sie nicht beantworten kann, die Welt würde eine ärmere sein. Und so sind Gedanken zu den Metatheorien der Quantenmechanik, sie fallen unter die Bezeichnung Interpretationen der Quantenmechanik, eigentlich ein natürliches und legitimes Unternehmen.

Unter den Interpretationen der Quantenmechanik gilt eine als die "klassische" Interpretation, die sogenannte Kopenhagener Interpretation. Die Kopenhagener Interpretation ist was für die Basic Bitches unter den theoretischen Physikern. Sie wird in so ziemlich allen Lehrbüchern zur Quantenmechanik gleich mitgeliefert, quasi als "Fabrikeinstellung" des Hintergrundes. Dies liegt aber nicht daran, daß diese Interpretation besonders gut oder elegant wäre. Sie ist die älteste unter den Interpretationen, mit großen Namen assoziiert (insbesondre mit Niels Bohr aus - Überraschung! - Kopenhagen) und vergleichsweise einfach zu vermitteln. Vermutlich ist sie vor allem daher die Standardinterpretation, und sie ist es so sehr, daß im Bewusstsein manchmal die Grenze verschwimmt, was wirklich zur Quantenmechanik selbst und was schon zu ihrer Interpretation gehört. Die Kopenhagener Interpretation zeichnet folgendes Bild des Geschehens bei einer physikalischen Messung:

Bevor ich meine Messung durchführe, befindet sich mein Experiment tatsächlich in der als Lösung des jeweiligen Sturm-Liouville-Problems erhaltenen Überlagerung von Eigenfunktionen. Es ist gewissermaßen (aber wirklich nur sehr gewissermaßen, sowas sollte man nicht wortwörtlich verstehen) alles, was es physikalisch sein kann, gleichzeitig. Das klingt zwar sehr komisch, macht aber nichts weiter aus, denn diesen Zustand hat es ja nur, wenn ich gerade nicht messe, also gewissermaßen gerade nicht hingucke. Daher sehe ich diesen bizarren Zustand nie. Denn in dem Moment, in dem ich messe, verschwindet die Überlagerung, und das Experiment entscheidet sich spontan und zufällig für eine der vielen Eigenfunktionen der Überlagerung, die ich als Lösung meines konkreten Sturm-Liouville-Problems erhalten habe. Und der zu dieser Eigenfunktion gehörige Eigenwert ist es dann, was ich mit dem Messinstrument registriere.

Dieser Übergang von der Überlagerung vieler Eigenfunktionen zu einer einzigen heißt der Kollaps der Wellenfunktion. Die "Wellenfunktion" meint dabei die Eigenfunktionen des Sturm-Liouville-Problems, vor dem Kollaps ist die "Wellenfunktion" eine Überlagerung (also eine Summe mit Gewichtungsfaktoren) aus allen Eigenfunktionen, nach dem Kollaps bleibt nur eine Eigenfunktion übrig. Mit welcher Wahrscheinlichkeit nach dem Kollaps dabei jede einzelne Eigenfunktion und als Messergebnis der zugehörige Eigenwert heraus kommen kann, dazu bietet die Theorie wie gesagt eine Möglichkeit der Berechnung an.

Diese Interpretation, wie man von allen allen Eigenfunktionen des Sturm-Liouville-Problems im Prozess der Messung zu einer einigen Eigenfunktion kommt, klingt recht gewöhnungsbedürftig, schließlich ist es eine merkwürdige Vorstellung, daß vor der Messung etwas zu einer Zeit in verschiedenen Zuständen sein kann. Ein noch größerer philosophischer Schönheitsfehler ist aber, daß diese Theorie dem Prozess der Messung eine Sonderrolle zubilligt. Was ist denn nun eine Messung, und was nicht? Und woher weiß mein Experiment, wann ich messe und es sich für eine Eigenfunktion entscheiden muß, und wann nicht? Letztlich ist doch auch eine Messung ein physikalischer Vorgang wie jeder andere auch, warum sollte er eine besondere Rolle spielen?

Interpretationen


Dieser Schönheitsfehler der Interpretation hatte im Laufe der Zeit viele Bemühungen in Gang gesetzt, eine andere Interpretation zu finden, die solche Sonderrollen vermeidet. Und tatsächlich wurden auch mehrere andere Interpretationen vorgeschlagen, die ohne solche Schwierigkeiten auskommen, allerdings haben sie alle ihre eigenen Merkwürdigkeiten. Im folgenden wollen wir nur auf eine dieser Interpretationen eingehen, die Viele-Welten-Interpretation. Das ist schon mal ein blöder Name, denn es gibt in dieser Interpretation eigentlich und genau genommen keine "vielen Welten". Diesen Namen bekam die Interpretation erst nachträglich und wohl eher aus aus PR-Gründen. Ihr Erfinder, der Physiker Hugh Everett III, nannte seine Interpretation selbst deutlich weniger spektakulär aber dafür treffender die "Formulierung der relativen Zustände" oder "Korrelationsinterpretation".

Der Grundgedanke dieser Interpretation ist es, die Quantenmechanik einfach mal konsequent zu verstehen und anzunehmen, daß, wenn jedes isolierte (d.h. mit nichts anderem in Berührung kommende) System der Schrödingergleichung gehorcht, auch das Universum als Ganzes der Schrödingergleichung gehorcht. Damit fällt die Unterscheidung zwischen Experiment und messenden Experimentator weg, denn beide sind ja Teil desselben Universums und somit Teil eines einzigen quantenmechanischen Systems. Eine Folge ist, daß der "Zustand" des Beobachters nicht mehr unabhängig vom Zustand seines Experiments ist. Beide Zustände kann man nur relativ zueinander angeben (daher der Begriff der "Formulierung der relativen Zustände"). Im Rahmen dessen, was wir bisher gesagt haben, kann man das auch so formulieren: Der Experimentator sieht nicht eine der Lösungen eines Sturm-Liouville-Problems, das sein Experiment beschreibt. Sondern der Experimentator, der ein Messergebnis beobachtet, und das Experiment mit seinem Ergebnis sind eine einzige Lösung eines "übergeordneten" Sturm-Liouville-Problems, daß das gesamte Universum mit dem Experiment und dem Experimentator beschreibt. Einfach, weil Experiment und Experimentator Teil desselben Universums sind, und das ganze Universum, bei konsequenter Anwendung der Quantenmechanik, ein (verdammt großes) Sturm-Liouville-Problem darstellt.

Nach dieser Interpretation müßte die richtige Formulierung nicht lauten "Das Ergebnis meines quantenmechanischen Experiments ist dies-und-das, das habe ich gemessen", sondern viel mehr "Das Ergebnis meines quantenmechanischen Experiments ist dies-und-das und ich, der es gemessen hat".

Bleibt immer noch das Problem: Wieso ist das Ergebnis der Messung mal ich plus diese Eigenfunktion, mal ich plus jene Eigenfunktion, scheinbar zufällig so, wie es die verschiedenen Eigenfunktionen aus der Überlagerung der Eigenfunktionen des Sturm-Liouville-Problems für mein Experiment erlauben?

Die Antwort folgt in dieser Interpretation automatisch und nur konsequent. Diesen Kollaps der Wellenfunktion, den gibt es eigentlich gar nicht. Am Universum als ganzem kann man ja nicht von außen messen, also gibt es gar nicht mehr die Möglichkeit, einen Übergang von der Überlagerung von Eigenfunktionen zu einer Eigenfunktion zu kommen. Für das ganze Universum bleibt das Ergebnis eines Sturm-Liouville-Problems, die Überlagerung seiner Eigenfunktionen, bestehen. Nur ist dann eben auch der Beobachter ein Teil dieser Lösung, und es gibt eben den Beobachter zusammen mit einem Messergebnis und einen Beobachter mit einem anderen Messergebnis. Alle Eigenfunktionen werden realisiert, und da der Beobachter in diesem Bild Teil der Eigenfunktionen ist, verschwindet das ganze Problem.

Dieser Aspekt der Interpretation ist es, der den Namen Viele-Welten-Interpretation verursacht hat: Alles, was geschehen kann, geschieht auch. Allerdings nicht wirklich in verschiedenen Welten. Viel besser wäre, es von verschiedenen Zweigen der Welt oder der Realität zu reden. Denn diese verschiedenen Lösungen sind nicht getrennt voneinander. Sie sind alle jetzt und hier, am selben Ort und zur selben Zeit, und sie haben eine gemeinsame Vergangenheit und sie werden vom selben Naturgesetz bestimmt (d.h. die gehören alle zu ein und demselben Sturm-Liouville-Problem mit einem Satz von Anfangsbedingungen).

Es ist vielmehr eine einzige große Welt, die sich fortwährend in neue Zweige aufspaltet, während alles passiert, was die Gesetze der Physik erlauben, daß es passiert. Eine etwas genauere Formulierung findet sich z.B. in der englischsprachigen Literatur, wenn von einem Universum bestehend aus sehr vielen Welten gesprochen wird. Man darf diese vielen Welten nicht mit den Multiversen aus anderen Theorien verwechseln. Dort sind die anderen Universen mitunter doch (auf eine verallgemeinerte Weise) raum-zeitlich von unserem Universum getrennt, Universen können kollidieren, und was weiß ich… Mit den Zweigen der Realität der Viele-Welten-Interpretation haben sie mitunter gar nichts zu tun.

Finale


Bleibt nur eine letzte Frage: Warum sehe ich denn die anderen Zweige der Welt, meine anderen Ichs und deren Experimente nicht, wenn sie genau jetzt und genau hier auch da sind? Die Antwort auf diese Frage liegt praktischer Weise in der Quantenmechanik selbst angelegt. Die in dieser Theorie enthaltene Beschreibung, wie sich die Lösung des Sturm-Liouville-Problems mit der Zeit entwickelt (sie muß sich mit der Zeit verändern, sonst würde in der Welt ja nix passieren, alles bliebe gleich), ist linear.

Der Begriff linear meint, wenn man die Beschreibung auf eine Überlagerung anwendet, dann wirkt sie auf jeden Teil der Überlagerung einzeln. Und für die Überlagerung der Eigenfunktionen bedeutet das, jede Eigenfunktion entwickelt sich mit der Zeit vollkommen unabhängig von allen anderen. Die verschiedenen Zweige der Realität sind damit komplett voneinander entkoppelt.

Ob andere Realitätszweige, wie in der Viele-Welten-Interpretation angenommen, tatsächlich existieren oder nicht, kann in dem Zweig der Realität, in der ich gerade diese Zeilen schreibe (und in der ich mich gerade vertippt hatte, in einem anderen Zweig der Realität hatte ich das nicht und werde darum diesen Satz nicht einschieben), nicht ein einziges Elementarteilchen in seiner Bewegung beeinflussen. Damit sind die anderen der vielen Welten so unsichtbar, wie sie es nur unsichtbar sein können. Und weil dies immer mal wieder Anlass von Missverständnissen ist, man sollte vielleicht noch mal ausdrücklich festhalten: Andere Realitätszweige sind nicht jeder Beobachtung entzogen, weil dies von der Viele-Welten-Interpretation irgendwie so postuliert würde. Sondern dieser Umstand ist, wie auch schon die Quantisierung, von vornherein in der mathematischen Natur der Quantenmechanik angelegt. Dies trägt sehr zur Eleganz der Viele-Welten-Interpretation bei.

So, fertig. Zeit für ein letztes Fazit.

Wir haben unter dem Leitthema senkrecht stehen einen ziemlich weiten Bogen zurückgelegt, eine muntere Amokfahrt durch Mathematik, Physik, Musik und Computerkram bis hin zu eher philosophischen Fragen. Und über das Ergebnis, daß es durchaus möglich ist, daß es Myriaden von gemeinsam existierenden aber füreinander unsichtbaren Realitätszweigen gibt, die aus zueinander senkrecht stehenden Funktionen hervorgehen, darüber kann man schon staunen.

Aber viel erstaunlicher ist doch im Grunde etwas anderes: Es ist möglich, einen anschaulichen und unmittelbar dem Alltag entnommenen Begriff wie den des senkrecht Stehens durch fortschreitende Abstrahierung so weit zu entwickeln, daß er auf das Wesen des Universums und der Realität ausgedehnt werden kann. Das ist doch ein Umstand, über den man gar nicht erstaunt genug sein kann! Und er zeigt die Schönheit und schier unfassbare Kraft wissenschaftlichen Denken viel deutlicher als jede Diskussion gerade aktueller Einzel- und Detailfragen es könnte.


Anmerkungen:

[0] Allgemeiner Hinweis zu diesem Post:
Dieser Text ist eigentlich sowas wie ein Experiment. Mich stören ja schon seit längerem zwei Punkte an der populären Wissenschaft, egal ob in klassischen Medien oder Wissenschaftsblogs. Einmal ist da ein allgemein erschreckend flaches Niveau. Die Angst, den Leser überfordern zu können, scheint einem zwischen den Zeilen manchmal geradezu entgegen zu schreien.

Bei Wissenschaftsblogs ist dieses Problem zwar etwas geringer als in anderen Medien. Denn einmal müssen die vielleicht nicht so sehr auf Klickzahlgenerierung oder Quote schielen als klassische Medien. Und fachlich versiertere Autoren wie Wissenschaftsblogger können auch kompetenter berichten, was in der Wissenschaft passiert und warum das wichtig ist.

Der zweite Punkt trifft sie aber mindesten genauso wie den klassischen Wissenschaftsjournalismus: Sie hängen sich immer an mehr oder weniger aktuellen Einzelproblemen auf. Sie berichten von irgendeiner neuen Veröffentlichung, einem neu gefunden Fossil oder was auch immer. Was mir persönlich dabei zu kurz kommt, ist ein Blick auf die weiten und tiefen Zusammenhänge, die herzustellen die Wissenschaft erlaubt. Es scheint mir immer so, als wenn die populäre Wissenschaft immer intensiv einzelne schön behauene Steine diskutiert. Und auch wenn die Steine tatsächlich sehr schön und kunstvoll gestaltet sind, sie versäumt es dabei, den Kopf auch mal zu heben und sich die ganzen gewaltigen und beeindruckenden Bögen der gotischen Kathedrale anzusehen, in der sie mit der Wissenschaft steht.

Das klingt jetzt sehr schwülstig, ich weiß, und deshalb hatte ich mir auch vorgenommen, mal ein Beispieltext zu schreiben, der illustriert, wie ich es mir anders vorstellen könnte. Dabei habe ich dann aber schnell gemerkt, warum es niemand so macht und abgebrochen. Ein solcher Text wird völlig unlesbar, viel zu lang und überfrachtet. Nachdem ich aber gesehen habe, daß ein kleiner Nörgeltext zur Quantenmechanik hier im Blog auf überdurchschnittliches Interesse gestoßen ist (gemessen an den bescheidenen Zahlen dieses Blogs), wollte ich es doch einfach mal versuchsweise zu Ende bringen.

Vielleicht mag's der eine oder die andere ja doch auch mal auf die harte Tour, und es gibt jemanden, der diesen Text bis zu Ende liest. Mal sehen, wie er ankommt… Kommentare, Verbesserungsvorschläge und Korrekturen sind auf jeden Fall ausdrücklich erwünscht!

[1] Hier steckt noch die Annahme drin, daß die Achsen des Koordinatensystems selber senkrecht aufeinander stehen. Macht man diese Annahme nicht, dann wird die Berechnung des Skalarprodukts etwas komplizierter, geht aber im Prinzip immer noch. Um den hier versteckten Zirkel zu vermeiden, "senkrecht" zu erklären, indem man schon senkrechte Achsen einführt, müsste man die Achsen selbst schon als Vektoren auffassen, die "Basisvektoren", und zuerst das Skalarprodukt dieser Basisvektoren betrachten. Warum sollte man das auch nicht tun, die Achsen sind letztlich auch nur "Pfeilchen". Um's einfach zuhalten, lassen wir diesen Schritt hier aber mal aus.

[2] Welche Regeln das genau sind, lassen wir hier mal aus. Genau genommen sind diese Regeln nicht für die einzelnen Objekte definiert, die zu Vektoren werden, sondern für eine Menge von Objekten. Wenn für eine Menge von Objekten bestimmte Regeln bezüglich ihrer Elemente gelten, dann nennt man diese Menge einen "Vektorraum" und ihre Elemente sind Vektoren. Diese Regeln heißen die "Vektorraumaxiome".

[3] Die Bedingungen, die Funktionen erfüllen müssen, beziehen sich auf ihre Integrierbarkeit. Sofern die Integrale der Funktionen, bzw. Potenzen der Funktionen, endlich bleiben, können sie als Vektoren aufgefasst werden .

[4] Genau genommen muß man beachten, daß die Möglichkeit, ein Skalarprodukt zu berechnen, nicht Teil des Vektorkonzepts ist. Genau genommen muß man das Skalarprodukt extra definieren. Tut man es nicht, dann mag man zwar Vektoren haben, aber die Vorstellung des senkrecht Stehens ist in ihnen noch nicht angelegt. Aber der Einfachheit halber kaufen wir hier die Vektoren immer gleich mit einem Skalarprodukt. Was die Bedingungen für Funktionen aus der vorigen Anmerkung angeht heißt das, wir konzentrieren uns einfach auf quadratintegrable Funktionen.

[5] Die Gleichung hat die Form
mit den Randbedingungen
und den allgemeinen Voraussetzungen
Die Funktion r(x) ist eine Gewichtungsfunktion, die nicht viel zur Sache tut, aber die Formulierung ein bisschen umständlicher macht. Hier nehmen wir der Einfachheit durchgehend r(x) = 1 an, ansonsten müsste man von "senkrecht bezüglich einer Gewichtungsfunktion" sprechen.

[6] Genau genommen ist eine Eigenfunktion nur bis auf einen Faktor eindeutig bestimmt, aber schwamm drüber...

[7] Eine ausführliche mathematische Behandlung schwingender Saiten findet man z.B. hier.

[8] Man sollte vielleicht anmerken, daß der Grund, warum solche Funktionen so häufig auftreten, letztlich darin liegt, daß partielle Differentialgleichungen zweiter Ordnung durch einen Separationsansatz immer in Sturm-Liouville-Probleme zerfallen. Und partielle Differentialgleichungen zweiter Ordnung treten in den Naturwissenschaften in allen Bereichen sehr häufig auf, z.B. in Form der Poisson-Gleichung.

[9] An dieser Stelle ist eine Anmerkung angebracht, denn der Begriff des Sturm-Liouville-Problems ist vielleicht nicht das, was man dem Lehrbuch nach in der Quantenmechanik erwartet. Da würde man eher erwarten, daß von Eigenwertproblemen hermitescher Operatoren als Grundproblem gesprochen wird. Der Unterschied ergibt sich allerdings nur aus der Richtung, aus der man sich dem Problem nähert. Nähert sich man der Schrödingergleichung aus Richtung der Theorie der Differentialgleichungen, dann gelangt man automatisch zum Begriff des Sturm-Liouville-Problems. Nähert man sich mehr aus der Richtung der Funktionalanalysis, dann kommt man ganz natürlich über den Operatorbegriff zum Eigenwertproblem eines selbstadjungierten (bzw. hermiteschen) Operators. Der erste Weg ist wohl der historisch ältere, der zweite aber der bequemere und weitreichendere, weshalb sich Lehrbücher der Quantenmechanik für gewöhnlich schnell in den Operatorzugang stürzen. Letztlich läuft das aber auf das gleiche hinaus:

Man kann das Sturm-Liouville-Problem aus der Anmerkung 4 als Operatorgleichung schreiben, wenn man den Sturm-Liouville-Operator L entsprechend wählt:
Für zwei Funktionen u und v zeigt man durch simples Einsetzen, daß gilt
Integriert man diesen Ausdruck über das Intervall [a,b] und benutzt die Randbedingungen aus der Anmerkung 4, dann erhält man
Dies ist gerade die Bedingung für einen selbstadjungierten Operator L. Das Sturm-Liouville-Problem wird in der Operatorformulierung zum Eigenwertproblem eines selbstadjungierten (hermiteschen) Operators. Beim Drumherumreden in diesem Post fand ich es aber einfacher, beim Sturm-Liouville-Problem zu bleiben, und nicht von Operatoren zu reden.

[10] Die zeitunabhängige Schrödingergleichung ist eine partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung, und wie ja in Anmerkung 8 schon gesagt...

[11] Auch wenn sie in der Praxis nötig sind, ignorieren wir hier der Einfachheit halber alle Theorien, die über die "klassische" Quantenmechanik hinausgehen.


Nachtrag (10.1.2015):
Die Gestaltung dieses Textes wurde noch mal überarbeitet. Ein großes Danke für die Hilfe geht dabei an gnaddrig!

19 Kommentare:

  1. Sehr schön geschrieben: anspruchsvoll ohne zu überfordern!
    Mich interessiert wie (mit welchen Programm) die Animationen erstellt wurden.
    Ich möchte gerne zwei Wellenzüge gleicher Wellenlänge und Amplitude summieren und dann gegeneinander verschieben, um konstruktive und destruktive Interferenz zu veranschaulichen.

    Mit freundlichem Gruß aus Hamburg

    Thomas Dose

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    1. Die Animationen sind mit IDL gemacht, das ist leider keine freie Software… Damit geht es aber recht schnell, ich hab's oben am Ende des Posts mal angehangen!

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    2. Huuuiii, IDL! Darin habe ich wohl mit Abstand die meisten meiner Programme geschrieben.
      Die freie Alternative ist GDL (GNU Data Language). Kann nicht alles, was IDL (Interactive Data Language) kann, aber das betrifft hauptsächlich Widgets/GUI, und da arbeiten sie inzwischen wohl auch dran. Ich schätze mal, Dein Source würde darin ohne Änderung laufen.
      http://gnudatalanguage.sourceforge.net/

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    3. Stimmt, ich hab's ausprobiert, das läuft mit GDL auch auf Anhieb!
      Grundsätzlich glaube ich aber nicht, daß GDL in naher Zukunft ernsthaft als Alternative zu IDL in Frage kommt. Dazu ist die Ausstattung noch viel zu rudimentär, nicht nur keine GUI, auch numerische Ressourcen gibt es fast keine, und wenn man sich erst mal alles selbst draufschaffen muss…? Aber die Idee einer freien IDL-Alternative ist gut, hoffentlich wird was draus!

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  2. Vielen Dank!
    Ich würde die Animation gerne im Unterricht verwenden. Dann aber mit korrekter Quellenangabe.

    Gruß

    Thomas Dose

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    1. Ist schon ok, das Werk liegt unterhalb der Schöpfungshöhe!
      Ich mach's dann auch gleich wieder weg...

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  3. Ich las diesen Essay sehr gerne und würde ihn auch in Buchform kaufen.

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  4. Sehr schön! Verständlich und nachvollziehbar geschrieben, sogar für Leser, denen die dazugehörige mathematische Bildung im Laufe der Zeit flöten gegangen ist ;)

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  5. Schön, daß der Post auf etwas Interesse stößt! Vielleicht gibt's was in der Art noch wieder...

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  6. Klasse Text! Ist zwar wirklich recht lang und darum erstens bloguntypisch (wir reden hier immerhin über 7.800 Wörter oder 19 Druckseiten!) und zweitens eine Herausforderung in Sachen Aufmerksamkeitsspanne. Aber der Text ist sehr anschaulich geschrieben, und die Animationen finde ich genial!

    Bis da, wo die Quantenmechanik anfängt, war mir alles aus der Schule bekannt. Das hatte ich zwar nicht mehr ganz präsent, konnte aber sehr gut folgen. Und der quantenmechanische zweite Teil war für mich auch keine Überforderung, es baut ja schön aufeinander auf. Ich finde, von der Sorte Artikel könnte es mehr geben.

    Deine Gedanken zur Wissenschaftsbloggerei finde ich interessant. Die Rezensionen der einzelnen schön behauenen Steine sind wichtig, aber über die Kathedrale als ganzes sollte auch jemand gelegentlich schreiben. Ich jedenfalls würd's lesen, genau wie die anderen längeren Artikel hier (etwa den über die Satellitenbildinterpretation).

    Und Anonym hat recht, das könnte Teil eines Wissenschaftsbuches werden, warum nicht?

    *****

    Du wünscht Dir Kommentare und Verbesserungsvorschläge. Also: Eine Schwäche ist in meinen Augen die Gliederung. Nicht die inhaltliche, die ist schön folgerichtig, sondern die Typographische.

    Erstmal braucht es viel mehr Absätze, und zwar immer mit Zeilendurchschuss oder eingerückter erster Zeile. Diese amorphen, bildschirmhohen Bleiwüsten sind sehr anstrengend zu lesen, weil man sich im Text schwer orientieren kann - einmal die Stelle verloren findet man sie nie wieder.

    Außerdem würde ich zu Zwischenüberschriften raten. Dann sieht man, wie es vorwärts geht. Man kann sich im Text besser orientieren, anstatt in einem typographischen Sumpf zu stecken, und kann bestimmte Stellen hinterher leichter wiederfinden.

    Wenn Du magst schicke ich Dir heute abend eine vorschlagsweise überarbeitete Version. [Sowas gehört mit zu meinem Metier ;) ]

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    1. Danke für die ausführlichen Anmerkungen!
      Das mit dem Buch lasse ich aber doch lieber. Sowas ist selbst für Leute, die wahrlich mehr Talent zu sowas haben, eine Heidenarbeit…

      Verbesserungen zur Gestaltung sind sehr willkommen! Denn Texte, die einen so weiten Bogen zu schlagen versuchen, werden zwangsläufig länglich. Da ist alles willkommen, was die Lesbarkeit verbessert.

      "Wenn Du magst schicke ich Dir heute abend eine vorschlagsweise überarbeitete Version."
      Na aber von Herzen gerne doch! Das wäre super!

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  7. Wundervoll, vielen Dank! Auf DWüdW gefällt wirklich jeder Beitrag, und dieser hier besonders!

    Aber: Neil Bohr? Ist das der Bruder von Niels Armstrong, dem ersten Mann, der auf dem Mond Tuba gespielt hat?

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    1. Ah, das war bestimmt wieder diese Auto-Korrektur! ;) Danke!

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  8. Hi,

    mir hat der Text sehr gut gefallen.
    Allerdings konnte ich mir als nicht Mathe LK'ler nur schwer vorstellen, wie man eine Funktion um die andere drehen kann. Hier hätte ich mir eine etwas tiefergehende Erklärung gewünscht.
    Ansonsten habe ich mich über den ausführlichen Beitrag gefreut und der Rest war ja auch top erklärt ;-)

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  9. Vielen Dank für diesen schönen Beitrag!
    Gerne mehr davon!

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  10. Sowas Gutes, d.h. Klares, habe ich schon lange nicht mehr gelesen - aber das paßt zum Rest der Inhalte, an denen ich mich hier schon erfreuen durfte!

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  11. Ich glaub für 9.Klässler geht es in Ordnung wenn sie bereits bei den Funktionen nicht mehr alles verstanden haben... kommt ja alles noch ;)

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    1. Exzellent, ein Genuss zu lesen & vielen Dank fürs Hirnauslüften - vom ganz unschuldig guckenden Türrahmen zur Quantenkathedrale. Bin über einen feynsinn-Qualitätslink hierhergekommen.
      Rein spekulativ: Wenn Messung/Messender den "Zustand" das Ganzen beinflussen, könnte dann - metaphysisch - Lesen den Zustand des Gelesenen, der "Welt", beinflussen und im Größeren einen Ruck in die Richtung geben, dass am Schluss dieser angenehme Realitätszweig sich unabhängig machen kann von dem Realitätszweig, in dem der korrupte hirnlose allgemeine Blödsinn tobt? Es machte Poff und wir stünden so exakt senkrecht zu Springer, Mohn, Bertelsmann, Piech und ihren Ministern, dass diese verschwinden? Zu null werden? Oder müssten wir dann auch verschwinden? Aber angenehme Fantasie.

      Gruß, Ingo

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    2. Dummerweise gibt es immer wenn sich die Realität in einen Zweig mit Springer und Mohn und ohne Springer und Mohn aufspaltet auch eine Aufspaltung in einen unglücklichen und einen glücklichen Ingo… Aber als kleiner Trost: Irgendwie scheine ich auch der Pech-Thomas aus dem Realitätszweig zu sein, in dem immer die ganze Scheisse abgeladen wird…!

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