"Den jüngsten Flüchtlingsschub verdankt Merkel-Land dem eskalierenden Bombardement syrischer Städte [durch Russland], das doppelten Gewinn abwirft: Es stützt Assads Killerdiktatur und treibt Hunderttausende Richtung Deutschland, wo Merkel unter wachsenden Beschuss gerät."Und nein, das ist nicht nur ein Joffe-Problem; selbst bei der taz bläst man aktuell in dieses Horn:
"Dabei treibt der russische Potentat mit seinen Bombardements in Syrien immer mehr Menschen in die Flucht und damit in unsere Arme."Aber es sind noch mehr Theorien im Angebot! Bei der Welt spekulierte man diese Woche herum, es sei eine Kombination aus "chronischen Defiziten an Demokratie, Emanzipation und Bildung" und dem Klimawandel, die Menschen auf die Flucht nach Europa treibe.
Den ersten Preis für eklige Theorien geht aber wieder mal an Henryk Broder bei der Welt (es kann ja nicht immer Fleischhauer gewinnen…). Unter dem Titel "Was Blümchen [gemeint ist Norbert Blüm] in Idomeni zu sehen bekam" analysiert er die Lage von Geflohenen in Idomeni und bringt eine neue Erklärung dafür ins Spiel, weshalb sich Menschen die Torturen der Flucht nach Europa antun: Die sind einfach geil auf Qualen! Bzw:
"Anders als im hedonistischen Europa, wo Jugendliche, denen der Einlass in eine Disko verweigert wurde, wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung behandelt werden müssen, gilt in der arabisch-islamischen Kultur das Leiden als ein Wert an sich."Bei so vielen Theorien über die Ursachen der Massenflucht aus Syrien nach Europa will ich jetzt auch mal mit einer These aufwarten: Wir sind schuld daran. Nicht prinzipiell, wegen Unterstützung einer Bürgerkriegspartei oder sowas, sondern ganz unmittelbar und direkt. Aber gehen wir es der Reihe nach an.
Ist Putin Schuld? Ja klar, immer. Aber gucken wir erst mal auf die Zahlen. Zuerst auf die Zahl der Syrer, die nach Europa fliehen. Dazu gibt es jede Menge Daten vom Statistischen Amt der Europäischen Union, Eurostat. Unter Europa wollen wir hier mal die 28 EU-Länder plus der Schweiz, Norwegen und Island verstehen (diese Definition ist aber nur pro forma, tatsächlich bedeutet Europa in diesem Zusammenhang: Deutschland, Schweden, Ungarn und Sonstige). Und für die Zahl der nach Europa Geflohenen nehmen wir die Anzahl von Asylerstanträgen von Menschen mit syrischer Staatsbürgerschaft pro Kalendermonat. Das sieht dann so aus:
Offensichtlich wächst die Zahl der nach Europa fliehenden Menschen Jahr zu Jahr an. Außerdem sieht man eine Schwankung mit der Jahreszeit, im Sommer und Herbst sind es mehr Menschen als im Winter und Frühjahr. Und wann begannen die russischen und amerikanischen Luftangriffe auf Syrien? Der rote Pfeil markiert den Beginn der russischen, der blaue den der amerikanischen Angriffe:
Da werden sich die Freunde stabilisierenden Eingreifens mit robusten Mandaten aller Orten aber ein Loch in den Ast freuen! Mit dem Beginn von Bombardierungen nimmt die Zahl der nach Europa Fliehenden ab! Vielleicht liegt's aber doch nur am Wetter, und die Bombardierungen haben keinen unmittelbaren Einfluß auf die Anzahl der nach Europa Fliehenden. Nicht mal die russischen. Und Joffe hat einmal mehr schlicht Unrecht. Den "jüngsten Flüchtlingsschub" verdankt "Merkel-Land" nicht dem russischen Bombardement; der jüngste Schub erreichte seinen Höhepunkt bereits vor dem Abwurf der ersten russischen Bombe auf Syrien.
Gucken wir nun noch einmal das größere Bild an und betrachten nicht nur syrische Flüchtlinge nach Europa, sondern alle Syrer, die Syrien verlassen haben. Umfangreiche Daten dazu findet man bei der Syria Regional Refugee Response der UNHCR. Und wer schon von den Flüchtlingszahlen im letzten Diagramm beunruhigt war, der sollte an dieser Stelle besser aus dem Text aussteigen. Hier sind die Zahlen aller außerhalb Syriens registrierter Flüchtlinge, in kumulativer Darstellung. Die Die Zahlen für Europa (die selben wie um obigen Diagramm, nur nicht pro Monat, sondern kumulativ) sind zum Vergleich eingetragen:
Nur ein Bruchteil der Menschen, die Syrien in den letzten vier Jahren verlassen haben, hat es bisher bis nach Europa geschafft. Hinter den ca. 600 000 Syrern in Europa stehen noch mehr als 4 Millionen weitere Syrer, in Jordanien, dem Libanon, dem Irak, der Türkei, in Ägypten und Sonstigen. Was machen die da so? Wären es christliche Leistungsträger, dann würden die wohl Start-ups für Handy-Klingeltöne gründen oder innovative neue Finanzprodukte erfinden und gemäß ihrem Beitrag zur menschlichen Zivilisation stinkreich werden. Tun sie aber nicht. Muß an deren Kultur liegen. Tatsächlich sind die mit der Aufgabe, nicht zu verhungern, bereits ziemlich ausgelastet.
Nach dem Strategical Overview 2016-2017 der UNHCR sind aktuell 2,702 Millionen geflohene Syrer auf Nahrungsmittelbeihilfen in Form von Bargeld, Gutscheinen oder Sachleistungen angewiesen. Im Sommer 2015 waren es noch 1,823 Millionen Menschen.
Und den Vereinten Nationen mangelt es an Geld, die Menschen auch nur halbwegs angemessen zu versorgen. Und das nicht plötzlich, eindringliche Warnungen vor einer Unterfinanzierungen und der daraus folgenden gewaltigen humanitären Katastrophe gab es immer wieder, in Berichten und Pressemitteilungen von UNHCR und Welternährungsprogramm (WFP). Eine kleine Auswahl:
Juli 2014:
"UNHCR warns of dramatic consequences if funding gaps for Syrian refugees continue"
Oktober 2014:
"Urgent funding shortfalls force WFP to cut operations in Syria and sub-regions"
März 2015:
"UNHCR chief warns that Syria crisis at dangerous tipping point, as humanitarian needs outpace funding"
Juni 2015:
"Funding shortage leaves Syrian refugees in danger of missing vital support"
Allein, es gab nicht genug Geld für die UNHCR, WFP und deren Partnerorganisationen. Und so nimmt die Katastrophe ihren vorhergesehenen Lauf. In Jordanien ist der Anteil von syrischen Flüchtlingshaushalten mit sicherer Lebensmittelversorgung laut UNHCR (Strategical Overview 2016-2017 und 3RPProgress Report 2015) von 53% im Jahr 2014 auf 14% im Jahr 2015 abgestürzt, in Jordanien von 25% auf 11%. Der Wert der UN-Lebensmittelgutscheine pro Kopf und Monat wurde je nach Gastland um 22% bis 43% gegenüber 2014 gekürzt. 14% (im Libanon) bis 20% (in Jordanien) der von den Kürzungen betroffenen Familien mit Schulkindern haben angegeben, ihre Kinder aus der Schule genommen zu haben um Geld zu sparen oder sie zum betteln oder arbeiten zu schicken. Kinderarbeit, Zwangsheiraten, Krankheiten, das ganze Horrorprogramm einer ums Überleben kämpfenden Menschengruppe spult sich unter den Geflohenen ab.
Die UNHCR hatte auch Zahlen genannt, wieviel Geld benötigt würde um die Katastrophe abzuwenden. Für die Lebensmittelversorgung waren es eine runde Milliarde US-$ (Stand Sommer 2015). Und das ist auch eine unvorstellbar große Summe. Eine Milliarde Dollar, das ist, Moment, ich rechne mal nach… Das ist 1,3% des geschätzten Privatvermögens von Bill Gates! Und 1,3% des Besitzes von Bill Gates, das ist eine so astronomisch große Zahl, da ist es kein Wunder, daß die Weltgemeinschaft das nicht aufbringen konnte. (Denn ich will ja nicht ernsthaft vorschlagen, Schwerreiche zur Finanzierung von Flüchtlingen heranzuziehen. Das wäre ja ein völlig falsches Signal an die Leistungsträger. Wenn man auf Millionengewinne auch nur 50% Steuern zahlen müßte, da dächten die sich doch, daß es dann auch nicht mehr die Anstrengung wert ist. Da könnte man sich ja auch gleich in ein Zelt irgendwo in Jordanien setzten und sich bequem mit UN-Lebensmittelgutscheinen versorgen lassen…)
Nein, nicht russische Bomben oder Klimawandel oder Broders angebliche arabische Geilheit aufs Leiden ist Schuld, wenn Menschen aus Syrien nach Europa kommen wollen. Wir sind Schuld. Denn wir beteiligen uns zwar eifrig am Bomben, die angerichteten Folgen ignorieren wir. Wir lassen Millionen von Menschen irgendwo in der Wüste im Stich. Menschen, die immer weniger zu Essen haben und übrigens auch keine brauchbare medizinische Versorgung oder Zugang zu Bildung oder irgendwelche Zukunftschancen in ihrer Region. Und diese Menschen werden sich in Bewegung setzten, in unsere Richtung. Was sollten sie auch sonst tun? Dasitzen und verhungern, damit der Deutsche sich nicht überfremdet fühlt? Wir lassen die Menschen da, wo sie sind, im Zweifel verrecken und wundern uns dann, wenn sie in immer weiter wachsender Zahl bei uns vor der Tür auftauchen.
Und diese Entwicklung wurde schon seit zwei Jahren angekündigt. Der gegenwärtige Zustand ist also weder überraschend noch ist er unabwendbar gewesen. Er kann also nur eines sein: politisch gewollt.
Danke.
AntwortenLöschenoblomow
"Denn wir beteiligen uns zwar eifrig am Bomben, die angerichteten Folgen ignorieren wir. Wir lassen Millionen von Menschen irgendwo in der Wüste im Stich. "
AntwortenLöschenWer ist wir?
Wenn du dich am Bomben beteiligst, mußt Du nicht "wir" sagen.
Oder willst Du Deine Bomben auf uns verteilen?
@oblomow:
AntwortenLöschen"Gerne" ist hier nicht ganz die passende Erwiderung, fürchte ich…
@Anonym:
Schön, daß Du Dich innerlich von den Bomben distanzierst. "Wir" ist in diesem Falle Deutschland als Teil der Internationalen Allianz gegen den IS. Und wenn Du in Deutschland lebst (oder Frankreich oder England oder…), dann kannst Du Dich zwar innerlich distanzieren, Deine Steuergelder gehen aber trotzdem ins Bomben, fürchte ich. (Ich habe da mehr Glück, ich zahle meine Steuern in einem Land, daß nicht in Militäraktionen in Syrien involviert ist…)
da du in deutsch schreibst,gehe ich davon aus. das du in der schweiz opder in östereich wohnhaft bist.
Löschenich muss dich enttäuschen auch diese länder beteiligen sich am krieg.für die- ch -" sig-holding",für- aut-"steyer,glock". beide länder verkaufen auch ihre waffen! also auch fianziert mit deinen steuern!
Seit wann sind SIG, Steyr und Glock staatliche Waffenhersteller?
LöschenWie oblomow, so auch ich: Danke!
AntwortenLöschenAus! ge! zeichnet! - Bitte weiter so!
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