Samstag, 20. Dezember 2014

Jahresrückblick (3): Verschwörungstheorie des Jahres

2014 war fraglos das Jahr für Verschwörungstheorien und Verschwörungstheoretiker schlechthin. Es ist ja noch gar nicht so lange her, da wusste man kaum, was eine Verschwörungstheorie überhaupt ist. Verschwörungstheoretiker waren noch ein kleiner, im Verborgenen agierender Haufen mit echtem Geheimwissen. Verraten haben sie sich allenfalls durch erhöhten Alufolienverbrauch. Und 2014 dann sind Verschwörungstheoretiker plötzlich überall! Friedensbewegung oder Pegida, Forennutzer oder Linkspartei, das ganze Internet eigentlich sowieso - alles durchzogen und unterwandert von Verschwörungstheoretikern! Jede Meinung, die - egal in welche Richtung (und egal ob man sie nun selbst schätzt oder zum Kotzen findet) - von der Standardeinstellung abweicht, wird gleich in Richtung Spinnertum abgeschoben. Und das, obwohl sich auf der anderen Seite noch nie so viele Verschwörungstheorien in so kurzer Zeit als wahr herausgestellt haben als in unseren Tagen: Unsere e-mails und Telefonate werden wirklich alle aufgezeichnet, die USA haben wirklich Menschen in Geheimgefängnissen totgefoltert, Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt haben wirklich Naziterroristen gedeckt, die Elite des deutschen Journalismus ist wirklich allesamt in amerikanische Lobbynetzwerke eingebunden. Und wenn morgen raus kommt, daß die Erde tatsächlich von menschenähnlichen außerirdischen Reptilien mittels Chemtrails kontrolliert wird, es würden alle nur mit den Schultern zucken: Haben wir doch eigentlich schon immer gewusst!
Wahrscheinlich steckt hinter dem ebenso inflationär wie unpassend wachsenden Verschwörungstheorievorwurf einfach ein Verlust der Kommunikationsfähigkeit. Menschen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in Deutschland verstehen sich einfach nicht mehr. So können es sich Mediennutzer einfach nicht vorstellen, daß eine Mischung aus Sparzwang und Blödheit (im Verhältnis von ca. 1:8) schon ausreicht, damit Medien wieder und wieder und wieder und wieder falsche und manipulative Bilder zum Thema Ukraine veröffentlichen. Sie sehen da gleich eine große NATO-Verschwörung am Werk. Umgekehrt glauben die Onlineredakteure, daß ihre Leserkommentare unmöglich wirklich von ihren Lesern stammen können, sondern bezahlte russische Auftragsarbeit sein müssen. Sie können sich einfach nicht vorstellen, daß ihre Leser ihnen plötzlich zu Tausenden die Artikel nicht mehr glauben und ihnen zu widersprechen anfangen.
Um in diesem ganzen Wust aus angeblichem Rumverschwören eine wirklich schöne Verschwörungstheorie herauszuziehen, bedarf es schon einiger Anstrengung. Aber mir fiel ein literarischer Höhepunkt des Jahres 2014 ein, der mich endgültig in meiner eigenen Lieblingsverschwörungenstheorie festigte. Es war im Februar. Stefan Niggemeier hatte dargelegt, wie der bekennende Homophobiker Matthias "The Exorcist" Matussek einen Fragebogen aus dem Sexualkundeunterricht für die siebte Klasse nicht verstanden hat. Und er mußte auch noch sein Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen, daß ein Mann, dessen Leseverständnis nicht für die siebte Klasse reicht, es einmal zum Kulturchef des Spiegel gebracht hatte. Das war für sich schon ein lesenswerter Text. Doch dann entschloss sich Matussek, auf diesen Text zu antworten. Und er schuf einen der denkwürdigen Artikel des Jahres 2014, vielleicht sogar der Zehnerjahre: Notwendige letzte Worte.
Da er gegen Vorwurf, den besagten Fragebogen nicht verstanden zu haben, eigentlich nichts erwidern konnte (Er hatte ihn nun mal ganz offensichtlich nicht verstanden), verwob er Beschimpfungen des Herrn Niggemeier von eher simpel ("Sie Trottel") bis originell ("aufgeschwemmter Mausepaul") mit dem Heldenepos seines Lebens: Er kennt die Welt von London bis Rio, er war unter Terroristen und ist Bestsellerautor, er publizierte über alle von Goethe bis Heine, nahm sämtliche Drogen, ist Unterrichtsstoff an Schulen und hatte alle Formen des Sex ausprobiert. Dochdoch, das hat Herr Matussek wirklich alles so geschrieben. Nur um Herrn Niggemeier gleich darauf der Eitelkeit zu bezichtigen.  Und so geht das im Text weiter. Wer es verpasst hat, sollte Notwendige letzte Worte unbedingt noch nachholen! Wer sie gelesen hatte, sollte sich den Text ruhig nach dem dritten Glühwein noch mal in Ruhe hernehmen und sich noch einmal vergewissern: Doch, es gibt Schlimmeres als Weihnachten mit der Familie! Nicht, daß viel abzutrennen gewesen wäre, doch eine solch entschlossene intellektuelle Selbstentmannung wie die des Herrn Matussek wird man nicht oft finden. Da sieht man, wohin der Drogenkonsum am Ende führt! Finger weg, Kinder!
Aber nun zur Verschwörungstheorie. Macht dieser Matussek'sche Text denn nicht irgendwie misstrauisch? Kann sich ein Mensch selbst wirklich derart zum Vollidioten machen? Und ja, der Text scheint von einem narzisstisch gestörtem Borderlinepatienten verfasst worden zu sein, der sich sein Hirn schon vor Jahren mit Brennspiritus weggesoffen hat. Aber ist dieses Werk auf der anderen Seite nicht auch erstaunlich gut geschrieben? Es ist ein Text, in dem die Begriffe "Goethe", "Lemuren", "verdinglichte Sexualität" und "Gulag" ganz zwanglos ein gemeinsames Heim finden, ein Text, dessen Rhythmus man beim Lesen geradezu körperlich spürt! Die Erklärung kann eigentlich nur eine ganz andere sein: Matthias Matussek existiert als Person gar nicht! Diese Person ist das längste und brillanteste Projekt einer deutschen Satireredaktion, erdacht von Martin Sonneborn. Sie ist der ultimative experimentelle Beweis, daß man in Deutschland ein ganzes erfolgreiches Leben führen kann, Zeitungen vollschreiben und seine Bücher wehrlosen Päpsten persönlich in die Hände drücken, auch wenn man es konsequent vermeidet, jemals auch nur zwei Sätze so aneinander zu reihen, daß sich ein Sinn ergibt. "Sinn" im allerweitesten Wortsinn. Irgendwann wird die Matussek-Verschwörung enthüllt werden müssen. Und es wäre erstaunlich, würde Sonneborn auf dem Weg dorthin nicht austesten, wie weit er gehen kann. Spätestens am Tag, an dem Matussek behauptet, bei Niggemeiers Geburt schon auf dem Mond gestanden zu haben, werdet Ihr Euch meiner Worte erinnern!

5 Kommentare:

  1. Rechtschreibfehler des Jahres:

    "Aber mir viel ein literarischer Höhepunkt des Jahres 2014 ein"

    Hehe. Aber ich mag Dich trotzdem.

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    1. Anonym, Du durchgerenderter Zirtonenschädel! Ich war schon als Austauschschüler in Slubice und Gauda! Und habe da alles probiert, was ich an Bier kriegen konnte! Meine Klassenarbeit zu Heine wurde in der Schule vorgelesen! Mein Deutschlehrer meine, sie sei "das witzigste, das ich je gelesen habe"! (Auch wenn der Idiot mir dann nur eine 5+ dafür gegeben hat.) Ich habe mit 15 meine ersten sexuellen Erfahrungen gesammelt, da wusstest Du doch noch nicht einmal, was ein Staubsauger überhaupt ist! Und jetzt willst Du Dich über meine Rechtschreibfehler lustig machen! Mein Gott, ob nun mit "ie" oder "h", was macht das schon!

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  2. Hallo Thomas,

    das Ganze ging irgendwie komplett an mir vorbei. Danke für den Frohsinn, den du mir pünktlich vor den Feiertagen gestiftet hast.
    Dir viel Kraft für die Familienfeiern!

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    1. Frohsinn schenken, und dann auch noch zur Weihnachtszeit, was könnte man lieber tun? ;) Do they know it's Christmas…? *sing sing* :)

      Aber ansonsten… Möge zu Weihnachten die Kraft mit uns allen sein!

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  3. Ach Du Sch... um Rum gibt es nun auch ne Verschwörung? ;-)

    "Wer sie gelesen hatte, sollte sich den Text ruhig nach dem dritten Glühwein noch mal in Ruhe hernehmen und sich noch einmal vergewissern: Doch, es gibt Schlimmeres als Weihnachten mit der Familie!"

    Das war für mich DER Brüller dieses Textes. Noch vor "Rumverschwören" :-D

    Herzlichen Dank dafür!

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