Sonntag, 28. März 2010

Alles wird schneller...irgendwie

Nicht nur, daß alles immer schlechter und unmoralischer wird, wie schon vor einer Weile hier erwähnt, es wird auch alles irgendwie immer schneller. Dazu gibt es eine Menge an Literatur, beispielsweise Beschleunigung - Die Veränderung der Zeistrukturen in der Moderne von Hartmut Rosa (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1760 (2005)). Man ist geneigt, dieser These von der Beschleunigung aus einem diffusen Gefühl heraus erst einmal zuzustimmen. Aber es bleibt die Frage, was es denn heißen soll, daß alles irgendwie immer schneller wird. Da findet man dann Formulierungen wie "die Geschwindigkeit wird immer höher", "alles beschleunigt", "das Lebenstempo nimmt zu", "die Beschleunigung wird immer größer", oder gar "die Zeit selber wird immer schneller". Dies klingt sehr lyrisch, aber kaum wissenschaftlich. Und so stellt Herr Rosa in Kapitel III.1 fest:
"Angesichts der notorischen Unschärfe des Beschleunigungsbegriffes in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskussion stellt die Einführung einer analytisch befriedigenden und empirisch aufschlussreichen Definition von Beschleunigung ein erstes und grundlegendes Forschungsdesiderat für jede Theorie der sozialen Akzeleration dar."
Also knapp gesagt, wir müssen erst einmal wissen, worüber genau wir eigentlich reden wollen. Natürlich denkt man bei Beschleunigung als erstes an die Physik mit ihrer klaren Definition dieses Begriffes. Und so findet dann Herr Rosa:
"[...] so erweist sich rasch, dass der Rückgriff auf herkömmliche Definitionen der Schulphysik, in denen Beschleunigung in Abhängigkeit von zurückgelegten Wegstrecken bestimmt wird (a = v/t bzw. a = 2s/t^2), nicht sehr weit reicht [...]"
Nun gut, ich hätte auch nicht an derart simple Schulphysik mit konstanter Beschleunigung gedacht. Aber wie wäre es denn, wenn man eine "richtige" Definition der Beschleunigung hernimmt und etwas verallgemeinert? Also etwa die Annahme macht, Beschleunigung sei die zweite Ableitung einer Größe (Position, Information, ...) nach der Zeit. Oder etwas anschaulicher, auch für nicht kontinuierliche Größen, daß Beschleunigung die zeitliche Änderung der zeitlichen Änderung einer Größe sei. Und tatsächlich traut sich Herr Rosa an eine solche Auffassung von Beschleunigung heran, nur um daran so grandios zu scheitern wie ein Physiker im Feng-Shui-Seminar:
"Der Rückgriff auf die Newton'sche Physik hilft dabei dann weiter, wenn man die in den angegebenen Gleichungen enthaltene Wegstrecke durch eine abstrakte Mengenangabe ersetzt."
Jaaa! Schon ganz heiß...!
"Beschleunigung lässt sich dann definieren als Mengenzunahme pro Zeiteinheit [...]."
Ok, vieleicht. Was ist denn jetzt "Mengenzunahme"?
"Als Menge können dabei der zurückgelegte Weg, die Anzahl der kommunizierten Zeichen, die produzierten Güter (Kategorie 1), aber auch die Zahl der Arbeitstellen pro Erwerbsleben oder die Intimparterwechsel pro Jahr (Kategorie 2) und ebenso die Handlungsepisoden pro Zeiteinheit (Kategorie 3) fungieren."
Also ist, inspiriert von der Netwon'schen Physik, die Wegezunahme pro Zeiteinheit als Beschleunigung definiert. Nicht etwa als Geschwindigkeit, als Meter pro Sekunde etwa? Und analog ist die Übertragungsrate (Zeichen pro Sekunde) eine Beschleunigung, nicht eine Geschwindigkeit?
Vieleicht ist das alles falsch verstanden, und "Mengenzunahme pro Zeiteinheit" meint tatsächlich "Zunahme der Mengenänderung pro Zeiteinheit"? Leider klärt sich die Bedeutung der Begriffe nicht gerade auf, wenn man ein bisschen im Text weiter liest:
"Für das Verständnis des Verhältnisses zwischen der technischen Beschleunigung und der Akzeleration des Tempos des Lebens ist es nun von entscheidender Bedeutung, sich den genauen Zusammenhang zwischen Mengenwachstum und Beschleunigung vor Augen zu führen."
Was ist denn jetzt "Mengenwachstum"? Nehmen wir an, es sei dasselbe wie "Mengenzunahme" im Satz zuvor.
"Handelt es sich um Prozesse stetiger (d.h. ununterbrochen voranschreitender) "Produktion", so hat Beschleunigung ein exponentielles Mengenwachstum zur Folge."
Und jetzt ist mein armer Kopf wirklich langsam überfordert... Was heißt denn jetzt "Produktion" schon wieder? Offenbar ist es nicht dasselbe wie "Mengenwachstum". Und wie hängt denn die Produktion mit der Beschleunigung zusammen? Und "exponentielles Wachstum" ist ja ein klar definierter Begriff: Es kommt genau dann zum exponentiellen Wachtum, wenn die zeitlich Änderung einer Größe proportional zur Größe ist (oder, anders gesagt, wenn die Beschleunigung proportional zur Geschwindigkeit ist).
Ich gebe es auf, diese Definitionen und Schlußfolgerungen verstehen zu wollen. Nun, ich habe es ehrlich versucht, diesen sozialwissenschaftlichen Text als Wissenschaft ernst zu nehmen, und nicht, wie unter Physikern und dergleichen wohl durchaus nicht unüblich, solche Texte als unwissenschaftliches Geschwätz abzutun. Wenn man aber sieht, mit welcher Eindeutigkeit die grundlegenden Begriffe einer Arbeit definiert werden, und mit wieviel Kompetenz über exponentielles Wachstum geredet wird, dann muß ich schon sagen: wahrlich, sie machen es einem nicht leicht, sie ernst zu nehmen, diese Sozialwissenschaftler!

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