Samstag, 3. Januar 2015

Die absurde Welt des Absurden

Von Focus Online-Artikeln wollte ich mich ja eigentlich fern halten, ist halt Focus Online. Aber der heutige Text Die absurde Welt der Physik von Focus Online-Autor Matthias Matting hat mich schon wieder schwach werden lassen. Denn eigentlich sollte man die Physik ja für alles mögliche, aber nicht für absurd halten. Und der Text des Physikers Matting ist dann so absurd, daß ich mir ein paar klugscheißerische Kommentare einfach nicht verkneifen kann. Es geht schon ganz am Anfang los:
"Ein Teilchen kann sich nicht an zwei Orten zugleich aufhalten? In der Quantenphysik schon."
Echt?! Boah! Bzw... nö.
 "Lässt man ein einzelnes Elektron auf eine Wand zufliegen, in der sich zwei Schlitze befinden, dann müsste sich das Teilchen nach klassischer Physik entscheiden. Links oder rechts – und entsprechend sollte man das Elektron dann hinter dem linken oder hinter dem rechten Schlitz nachweisen können."
Hmmm… Ok. Und?
"Tatsächlich bildet sich ein Muster (Interferenzmuster), das beweist, dass sich das Teilchen durch beide Schlitze bewegt haben muss."
Sach' ich doch: Nö. Gerade das passiert nicht. Ein einzelnes Elektron zeigt kein Interferenzmuster. Ein einzelnes Elektron wird hinter den Schlitzen als ein einzelnes Teilchen an einer einzelnen Stelle nachgewiesen. Die Interferenzmuster entstehen erst, wenn man die Ankunftsstellen von vielen Elektronen hinter den Spalten aufzeichnet. Deren Verteilung wird dann durch das Muster wiedergegeben.
Das Muster kommt nicht dadurch zustande, weil ein Elektron durch beide Schlitze fliegen würde, sondern weil es unbestimmt ist, durch welchen der Schlitze es gegangen ist. Würde man ermitteln, durch welchen Spalt jedes Elektron durchgehen würde, dann würde auch das Interferenzmuster verschwinden [1].
"Das Experiment von oben funktioniert sogar dann noch, wenn wir einen der beiden Schlitze erst öffnen, nachdem (!) das Teilchen das Hindernis überwunden hat – aber bevor es auf dem Detektor erschienen ist. Das Elektron hat sich also durch beide Schlitze bewegt, obwohl der eine im Moment des Passierens noch geschlossen war."
Hm, wieder nö. Ein Teilchen, daß gleichzeitig durch zwei Schlitze fliegt, von denen einer auch noch geschlossen ist, das sollte auch einem Leser mit größtem Physikvertrauen bescheuert vorkommen! Aber das mit dem durch beide Schlitze bewegen ist wie schon gesagt sowieso Unsinn. Aber es stimmt, man kann auch ein Interferenzmuster erzeugen, wenn nur jeweils ein Spalt auf ist. Der Witz ist nur, man darf wieder nicht wissen, welcher der Spalte gerade auf war, während das Teilchen durch ging. Wenn ich weiß, welcher Spalt auf war ("wissen" ist ein bisschen zu sehr vermenschlichend. Besser wäre es zu sagen, wenn im Experiment eindeutig festgelegt ist, welcher Spalt offen war), dann ist es egal, was nachträglich mit dem anderen Spalt passiert, das ändert dann auch nix mehr. Wie schon zuvor, so folgt auch hier das Interferenzmuster aus der Unbestimmtheit, durch welchen Schlitz ein Teilchen gegangen ist. Erlaubt die Messanordnung es, den Spalt festzulegen, verschwindet das Muster. Erlaubt sie es nicht, sieht man ein Muster.
Aber gut, nach dem Doppelspaltexperiment können wir ja noch einen anderen Klassiker bemühen:
"Schrödinger erdachte ein berühmt gewordenes Gedankenexperiment: Man stelle sich eine Katze in einer verschlossenen, nicht einsehbaren Kiste vor. Ebenfalls in der Kiste befindet sich eine Mord-Apparatur, die vom Zerfall eines radioaktiven Atoms gesteuert wird. […] In welchem Zustand befindet sich die Katze?"
Und?
"Aus Sicht der Quantentheorie lautet die Antwort: In einer Überlagerung aus den beiden Zuständen 'tot' und 'lebendig'."
Wieder nö. Das ist nicht die Sicht der Quantentheorie. Die Quantentheorie ist eine naturwissenschaftliche Theorie und als solche sagt sie nur etwas über die Ergebnisse von Messungen aus. Die "Messung" besteht hier aus dem Öffnen der Kiste und dem Nachsehen, wie es der Katze denn geht. Und dazu erlaubt sie eine Wahrscheinlichkeitsaussage - nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage, aber die immerhin ist kristallklar: Man findet die Katze ist mit einer Wahrscheinlichkeit von x% tot, bzw. 100-x % lebendig vor (und der Wert von x hängt vom genauen Versuchsaufbau ab). Was dabei zwischen dem Schließen und erneutem Öffnen der Kiste passiert, dazu sagt sie nichts aus, denn da findet keine "Messung" statt. Dieser Angelegenheit entspricht, etwas zugespitzt gesagt, die Frage, ob die Welt noch da ist, wenn ich die Augen schließe. Und das ist eine philosophische, keine naturwissenschaftliche Frage. Die Naturwissenschaft kann nur vorhersagen, was ich sehen sollte, wenn ich die Augen wieder aufmache. Was dazwischen mit der Welt passiert, kann ihr im Grunde egal sein. Natürlich macht sich der Mensch trotzdem Gedanken, was in der Zwischenzeit mit der Katze in der geschlossenen Kiste passiert, während niemand hinsieht. Aber diese Überlegungen sind Gegenstand der Interpretation der Quantenmechanik, nicht der Quantenmechanik. Dieser Unterschied mag spitzfindig erscheinen, er ist aber wesentlich. Das eine ist eine metaphysische Disziplin, die sich mit der Frage beschäftigt, was und wie die Realität ist, das andere eine naturwissenschaftliche, die sich mit der Vorhersage von Messergebnissen befasst. Und tatsächlich gibt es eine Interpretation der Quantentheorie, die davon ausgeht, daß sich die Katze in einer Überlagerung aus 'lebendig' und 'tot' befindet. Diese Interpretation heißt die Kopenhagener Interpretation, und das Gedankenexperiment ist ein guter Grund, diese Interpretation zu verwerfen. Denn unausgesprochen steht bei der Katze in der Kiste ja immer eine andere Versuchsanordnung im Raum: Was, wenn statt der Katze ein Mensch in der mörderischen Kiste eingesperrt wäre? Der sollte ja wissen, ob er gerade lebt oder nicht? Somit macht dieses Gedankenexperiment deutlich, daß die Kopenhagener Deutung dem Bewusstsein eine Sonderrolle in der Physik zubilligt, was nicht jedem gefällt. Glücklicherweise bietet aber selbst die Wikipedia noch vier andere Interpretationen der Quantentheorie an, die allesamt die Annahme einer gleichzeitig lebendigen und toten Katze vermeiden. Es hängt vom persönlichen philosophischen Geschmack ab, welche dieser Interpretationen man bevorzugt. Die eine Antwort der Quantentheorie gibt es bei dieser Frage aber schlicht nicht.

Na gut. Gibt's sonst noch irgendwelche tollen Einsichten?
"Je genauer Sie mit Lineal oder Zollstock messen, desto präziser wird das Ergebnis. In der Quantenphysik besagt die sogenannte Unschärferelation das Gegenteil."
Echt? Geil! Dann haben die Physiker ja ein laues Leben! Je ungenauer sie messen, desto präziser werden die Ergebnisse! Aber das ist auch wieder Quatsch. Je genauer man misst, desto präziser das Ergebnis, das ist ja gerade die Bedeutung der Worte "genauer messen". Und man kann auch in der Quantenphysik (grundsätzlich) jede Größe beliebig genau messen. Alles, was nicht geht, ist, Paare bestimmter Größen gleichzeitig beliebig genau zu messen.
Einen weiteren noch, ja?
"Die Unschärferelation erlaubt den Teilchen der Quantenwelt Tricks, die wir Menschen leider nicht drauf haben."
Guuut, ich bin gespannt!
"Dazu gehört der Tunneleffekt."
Unschärferelation bedingt den Tunneleffekt? Staedert... Ich habe Zweifel!
"Als Radfahrer kennen Sie vielleicht das Problem: Wenn Sie einen Berg überqueren wollen, müssen Sie sich erst auf dessen Gipfel quälen. Physikalisch stellt der Gipfel ein Potenzial dar."
Und ich dachte, physikalisch gesehen stellt ein Berggipfel einen Berggipfel dar?
"Ganz oben haben Sie eine potenzielle Energie, die der Höhe des Berges entspricht. Ein Elektron hat die Chance, sich einfach ohne Energieaufwand durch den Potentialberg zu bewegen. Dabei hält es sich nachgewiesenermaßen nie im verbotenen Bereich innerhalb des Bergs auf: Eben war es noch hier, schon ist es auf der anderen Seite."
Schon wieder nö! Das Teilchen kann sich auch auch im "verbotenen" Bereich des Potentialbergs aufhalten. Das ist ja gerade der Witz am Tunneleffekt und wie es auf die andere Seite gelangt! Die Aufenthaltswahrscheinlichkeit fällt im "klassisch verbotenen" Bereich sehr schnell ab, wird aber nie ganz Null. Endet der Potentialberg, bleibt eine von Null verschiedene Aufenthaltswahrscheinlichkeit auch auf der anderen Seite des Berges. Das Teilchen kann somit im klassisch erlaubten Bereich, im Potentialberg und außerhalb des Potentialbergs gefunden werden.

Naja, so geht das im Artikel noch ein bisschen weiter von ungenau bis gaga. Und das ist im Grunde auch nicht weiter bemerkenswert, schließlich stammt der Text von Focus Online. Erschreckend ist aber, daß der Autor Matthias Matting mit offensichtlich so wenig Ahnung von der Materie auch noch meinte, im Selbstverlag ein ganzes Buch zum Thema schreiben zu müssen (er bewirbt es im Artikel): Die faszinierende Welt der Quanten.
Also, ich würde ja ganz dringend vom Erwerb dieses Buchs abraten!


PS:
Vielleicht doch noch eine kurze Anmerkung zum Schluß. Ich selber finde ja, daß all diese anscheinend so merkwürdigen, absurden Phänomene ganz leicht nachvollziehbar werden, wenn man nur eine einzige intuitive Annahme fallen läßt, nämlich die Vorstellung, ein Objekt würde sich entlang einer Bahn durch den Raum (und die Zeit) bewegen. Diese Annahme entspricht der Anschauung, denn egal ob Fußgänger, Auto oder hüpfender Ball, alles scheint sich mit fortschreitender Zeit an einer Abfolge von Orten zu befinden. Es scheint sich eben entlang einer "Bahn", "Kurve" oder "Trajektorie" oder wie man das auch nennen will, zu bewegen. Die sehr anschauliche Vorstellung hat naheliegenderweise auch Einzug in die (klassische) Physik gehalten. In der Quantenmechanik aber gibt es diese Bahnen oder Kurven nicht, innerhalb der Theorie gibt es einfach keine Entsprechung zu dem Konzept der Bahn. Anstatt zu beschreiben, wie sich ein Objekt entlang einer Bahn durch Raum und Zeit bewegt, kann die Quantenmechanik nur beschreiben, wie sich die Wahrscheinlichkeit durch Raum und Zeit bewegt, ein Objekt bei einer Messung an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Zustand zu finden. Das Konzept einer Bahn eines Teilchens existiert in dieser Theorie schlichtweg nicht. An sich ist das keine große Sache, in vielen wissenschaftlichen Theorien gibt es keine Entsprechungen zu bestimmten anschaulichen Konzepten. Es käme ja auch niemand auf die Idee, in der Biologie vom Geruch eines Gens zu sprechen. Im Konzept des Gens gibt es eben keine Entsprechung für das anschauliche, sinnliche Konzept des Geruchs. Und wollte doch jemand unbedingt davon sprechen, weil Geruch nun mal ein so intuitives und vertrautes Konzept ist, es würde nur merkwürdiges, absurdes Zeug dabei heraus kommen. Genauso ist es mit den scheinbar absurden Phänomenen der Quantenmechanik. Sie werden nur dadurch absurd, daß jemand unbedingt im Rahmen des intuitiven Konzepts der Bahn eines Teilchens denken und reden muß - das nun einmal in der Theorie nicht vorkommt und keinen Sinn hat. Man nehme nur das erste Beispiel des Doppelspalts. Die Frage, durch welchen Spalt ein Elektron gegangen ist, macht schon die implizite Annahme, es gäbe so etwas wie eine Bahn, entlang derer das Elektron von seiner Quelle durch einen Spalt bis zum Nachweisinstrument gekommen ist. Und wenn man von solch einer Bahn ausgeht, dann kommen eben so absurde und blödsinnige Aussagen heraus, wie daß ein Teilchen durch zwei Spalte gleichzeitig geht. Die Angelegenheit ist dabei ganz einfach: Wenn ich wissen will, durch welchen Spalt ein Elektron geht, dann muß ich das messen. Tue ich das, dann finde ich immer ganz genau einen Spalt, durch den es geht, da ist nix rätselhaft dran. Messe ich es nicht, dann ist das Teilchen nicht durch den einen oder anderen oder beide Spalte gegangen, sondern dann kann ich die Frage nach dem Spalt nicht beantworten. Und das ganz ausdrücklich nicht, weil das Teilchen in Wahrheit durch einen der Spalte gegangen wäre, ich die Bahn aber nicht kenne. Sondern weil es eine solche Bahn gar nicht gibt. Das bringt das Messergebnis der Interferenzmuster zum Ausdruck, und das beschreibt die Theorie. Innerhalb des physikalischen Teils der Quantentheorie ist diese Frage einfach sinnlos. Wer dennoch wissen will, wie das Teilchen es macht, durch die Spalte zu kommen, der ist auf den philosophischen Teil der Interpretation der Quantenmechanik angewiesen. Wer es nicht wissen will, der kann aber auch ganz gut ohne leben.
Und wie mit dem Doppelspalt ist es im Grunde auch mit dem Tunneleffekt oder der Katze im Kasten. Sobald man sich auf das intuitive Konzept einer kontinuierlichen Bahn durch Raum und Zeit bezieht, kommt irgendein Unsinn dabei heraus. Lässt man dieses Konzept einfach fallen, dann verschwinden die Absurditäten von ganz alleine und die Theorie wird klar. Immer noch bemerkenswert von der Alltagsintuition und -anschauung entfernt, aber klar.

1 Kommentar:

  1. Soweit es den Focus betrifft - lese ich nicht. Trotzdem sind deine Ausführungen amüsant.

    Aus dem Postscriptum habe ich was dazu gelernt. Danke.

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