Manchmal gibt es wissenschaftliche Werke von so großer Bedeutung, daß sie innerhalb einer wissenschaftlichen
Community über viele Jahrzehnte hinweg als Originalarbeit zitiert werden. Dumm ist es nur, daß solche Werke dann mitunter aus einer Zeit vor der Erfindung des Hirsch-Index stammen, aus einer Zeit, in der es sich ein Wissenschaftler leisten konnte, interessante Gedanken auch irgendwo abseits in einem kleinen Konferenzband zu veröffentlichen. In einem solchen Fall sind die Quellen dann in späteren Jahrzehnten nur schwerlich aufzutreiben. Mir selbst lief eine exzessiv zitierte Quelle aus den 1950ern über den Weg, die ein hübsches Übungsbeispiel für die textkritische Methode abgegeben würde. Der Originaltext findet sich in einem ausgesprochen seltenen Sammelwerk und wurde wahrscheinlich seit den 1960ern von niemanden, der ihn zitiert, im Original gelesen. Alle zitieren ihn nur nach anderen Zitaten und letztlich lässt sich eine leichte Tendenz zur Divergenz feststellen bezüglich dessen, was im Ursprungstext denn nun gesagt sei. Besonders schön ist ein kleiner Namensfehler, der sich in den 1990ern in einem Lehrbuch eingeschlichen hatte. Seither gibt es zwei Traditionen der Überlieferung, ein Zweig zitiert das Originalwerk mit dem richtigen Namen im Zitat und einer geht offenbar von besagtem Lehrbuch aus und zitiert mit dem falschen Namen.
Da ich selber aber der Philologie nicht so zugeneigt bin, fasste ich eines Tages einen verwegenen Plan: Ich wollte den Originaltext auftreiben und alle Missverständnisse meiner Generation ausräumen! Auf eine Digitalisierung des Werks braucht man gar nicht zu hoffen und laut einer europaweiten Bibliothekssuche gibt es in ganz Europa keine drei duzend Bibliotheken, die das gesuchte Sammelwerk in ihren Archiven wissen. Und von diesen Bibliotheken liegt keine in meiner Gegend. Es fiel mir aber auf, daß die Universitätsbibliothek von Bologna zu diesen wenigen ausgezeichneten Bibliotheken gehört. Und da mich meine Wege ohnehin kürzlich nach Bologna führten, wollte ich die Gelegenheit nutzen und in ein paar freien Stunden den Originaltext endlich auftreiben. Und darum geht es im folgenden Text - um den Besuch einer Bibliothek! Ja, das ist ein Sujet, welches dem Leser wenig aufregend und für einen Spannungsbogen kaum tragfähig genug erscheinen mag. Das hätte ich auch gedacht - bevor ich die Universitätsbibliothek von Bologna kennenlernte! Jenen Ort, der in seiner langen Geschichte bereits Franz Kafka, David Lynch und dem frühen Dieter Hallervorden als Quelle der Inspiration für ihr künstlerisches Schaffen gedient haben muß!
Also. Es begann an einem Morgen, an dem eine gleißende Sonne von einem wolkenlosen Himmel ihr warmes Licht großzügig über das Zentrum von Bologna ausgoß. Doch schon bald sollte sich die Sonne verdunkeln...
Beinahe euphorisch berauscht von meinem eigenen, vorbildlichen wissenschaftlichen Eifer oder vom fast schon Indiana-Jones-igem Gefühl, bald der erste Mensch zu sein, der seit
Jahrtausenden Jahrzehnten wieder einen Blick auf die Originalzeilen wirft, oder vielleicht auch einfach nur von den drei Frühstücksespressi in meiner Blutbahn, trete ich aus der strahlend hellen Morgensonne hinein in die dunklen Gänge der Alma mater studiorum. Ich quetsche meine Tasche in eines der Schließfächer im Korridor vor dem Eingang zur Universitätsbibliothek und mache mich schwungvollen Schrittes auf den Weg hinein. Mitten in der Tür läßt mich der laute Schrei
"Halt! Sie da! Stehen bleiben!"
innehalten. Es war ein Schrei in jenem Tonfall, wie ihn nur ein bestimmter Menschenschlag hervorzubringen vermag. Jener Tonfall, in dem Aggressivität gerade so eben den Anflug von Panik angesichts eines befürchteten Kontrollverlusts zu überdecken vermag. Ein Tonfall, in dem einem ein unsicherer Sachbearbeiter auf dem Bürgeramt das "Aber Sie haben das Formular ja vollkommen falsch ausgefüllt!" entgegen schleudert. Oder wie ihn Pförtner haben, wenn man ohne sie zu beachten an ihnen vorbei rauscht.
Ich drehe mich um und eine Pförtnerin kommt aus einem kleinen Kabuff auf mich zu gerannt:
"Sie da, stehen bleiben! Wo wollen Sie denn hin?"
Eine seltsame Frage an jemanden, den man in der Tür zur Bibliothek gestoppt hat. Ich habe schon viele Agentenfilme gesehen und weiß daher, die beste Strategie besteht darin, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. Ich antworte:
"In die Bibliothek."
"Und was wollen Sie da?"
Noch eine merkwürdige Frage. Was könnte ich in einer Bibliothek wollen? Eier, Milch, 150 Gramm Aufschnitt… Ich will ihren Sinn für's Bizarre testen und gebe die maximal provozierende Antwort:
"Ein Buch."
"Sie gehen da nicht rein."
Ok, jetzt bin ich aber auch mal dran mit blöden Fragen:
"Tu' ich nicht?"
"Nein. Sie müssen mir Ihren Ausweis geben wenn Sie da rein wollen."
Ah. Das Lesen in den Zeiten des Terrors oder was? Wenn ein Selbstmordattentäter den Lesesaal zur Hölle schickt, dann soll die Polizei gleich seinen Ausweis haben, wie es sich für Terroranschläge heutzutage gehört? Egal. Ich erkläre ihr, daß mein Ausweis in meiner Tasche und meine Tasche im Schließfach ist und gehe zurück um ihn zu holen. Als ich wiederkomme hat sich die Pförtnerin, offenbar beruhigt, die Kontrolle über die Situation zurückgewonnen zu haben, wieder in ihr Kabuff zurückgezogen und hinter einem keinen Tisch platzgenommen. Ich schiebe ihr meinen Reisepass hinüber, doch Kerberos würdigt ihn keines Blickes. Stattdessen lehnt sie sich, auf beide Unterarme gestützt, vor und sieht mich scharf von unten an:
"Sie benutzen ein Schließfach?"
Langsam beginnt sich eine gewisse Genervtheit in meine Unsicherheit zu mischen:
"Ja, ich benutze ein Schließfach."
"Welches!"
Eigentlich war dies eine Frage, aber ein Ausrufezeichen gibt den Tonfall besser wieder.
"Eines von denen dahinten."
Ich zeige hinaus.
"Welches!"
"Mittlere Reihe das erste von rechts!"
"Welche Nummer!"
"Das weiß ich doch nicht welche Nummer das hat! Es ist das erste von rechts!"
"Sie müssen mir ihre Schließfachnummer sagen sonst kommen Sie nicht rein."
Ich laufe wieder zurück zum Schließfach, komme zurück zur Pforte des Grauens und berichte ein
"63."
Die Pförtnerin füllt ein weißes Formular aus. Es ist an einer Seite perforiert, so daß ein Stück abgetrennt werden kann. Das größere Stück des geteilten Formulars schiebt sie zusammen mit meinem Pass in eine hölzerne Karteikiste. Das andere Stück gibt sie mir in die Hand und gestattet mir mit einem Verdrehen der Augen die Passage in die noch dunkleren Hallen der Bibliothek.
Im zweiten Stock komme ich zu einer sehr großen Theke mit einer sehr kleinen Bibliothekarin dahinter. Ich bin bestens vorbereitet und äußere mein Verlangen nach einem Schatz ihres Archivs, vollständig mit Autor, Titel, Herausgeber, Ort und Jahr der Veröffentlichung und sogar mit Signatur. Ich habe mich mit dem Onlinekatalog wirklich sehr gut vorbereitet. Ich habe ein rotes Formular auszufüllen. Auch dieses ist perforiert, sogar zweimal. Ich fülle alles mehrfach aus, notiere Name, Anschrift, Staatsbürgerschaft, Geburtstag, Beruf und die Nummern auf dem kleinen weißen Zettel vom Eingang auf die drei Teile des des Formulars. Als ich der Bibliothekarin sage, daß mein Pass bei der Pförtnerin ist, gestattet sie mir, das Feld für die Ausweisnummer leer zu lassen. Dann zerteilt sie das Formular routiniert in drei Stücke. Eines drückt sie mir in die Hand, eines wandert in eine hölzerne Karteikiste auf ihrer Theke, eines verschwindet auf einen Stapel im Hintergrund.
Doch, tatsächlich, diese Bibliothek verfügt auch über einen Onlinekatalog!
Von da an geht es recht schnell voran. Nach kurzem Warten und einem kurzen Abgleich meines roten und weißen Zettels mit dem nun im Buch steckenden roten Zettel vom Hintergrundstapel händigt die kleine Bibliothekarin mir ein dickes Buch in fleckigem Einband aus und entlässt mich damit zu den Lesetischen. Es irritiert sie auch nicht im mindesten, daß ich dreimal meinen Platz wechsle bis ich eine helle aber nicht direkt beleuchtete Ecke eines Tisches gefunden habe und die nächste halbe Stunde Seite für Seite abfotografiere. Meinen nächsten Fehler mache ich erst, als ich fertig war. Ich gehe zur wirklich sehr großen Theke und schiebe der Bibliothekarin das Buch mit den Worten
"Danke, das war's"
hinüber, dann wende ich mich zum Gehen. Nach nur wenigen Schritten höre ich von hinten ihren Ruf:
"Stehen bleiben! Wo wollen Sie denn hin?"
Bitte nicht schon wieder! Ich wende mich um:
"Ich will hier raus. Ich will zurück in die Sonne! Ich will meine Fotos auf den Laptop laden, alles zu einem hübschen pdf packen und mich in die Lektüre stürzen!"
Sie bleibt ungerührt:
"Sie gehen nirgendwo hin. Kommen Sie wieder her!"
An der Theke fordert sie mit einer harschen Geste meine Zettel. Sie legt meinen kleinen weißen Zettel, meinen roten Zettel, den roten Zettel aus ihrer Karteikiste und den roten Zettel aus dem Buch nebeneinander und beginnt, sie sorgfältig abzugleichen. Dann naht der einzige, wahre und überwältigende Moment der Erlösung aus einer grausamen Welt der Bürokratie: Die Bibliothekarin greift nach einem großen Stempel. Sie muß gut zielen, er paßt gerade so eben auf die kleinen Zettel. Dann stempelt sie ein großes, fettes "ZURÜCKGEGEBEN" auf die drei roten Zettel. Meinen weißen Zettel und meinen roten Zettel gibt sie mir zurück mit den Worten
"Jetzt ist alles erledigt."
Die übrigen Zettel wandern in eine andere hölzerne Karteikiste. Ich schaue kurz auf meinen roten, irgendwie beruhigend bestempelten Zettel und murmle ein knappes aber vom tiefsten Grunde meines Herzens emporgestiegenes
"Danke."
Nein, das war es noch nicht ganz. Eine Episode bleibt noch. Schließlich muß ich vor dem Ritt in den Sonnenuntergang noch Kerberos dazu bringen, mir meinen Pass wiederzugeben. Die Pförtnerin sitzt noch immer hinter ihrem Tisch und schaut lauernd in die Eingangshalle hinein. Ich schiebe ihr den kleinen weißen Zettel, den sie mir bei unserer letzten Begegnung gegeben hatte, über den Tisch mit den Worten:
"Sie haben noch meinen Pass."
"Und?"
"Den hätte ich dann doch gerne zurück."
"Dazu brauche ich den Zettel."
Einen Moment lang schaue ich irritiert auf den kleinen weißen Zettel auf der schmuddeligen Holztischplatte zwischen uns, dann verstehe ich und hebe den roten "ZURÜCKGEGEBEN"-Zettel hoch. Soll dieser hart erworbene Zettel der Preis sein, den zu zahlen ich gezwungen bin, will ich zurückkehren in die Welt der Lebenden? So will ich nicht zögern! Ich schiebe ihr auch den roten Zettel hin. Sie nimmt meinen Pass mit ihrem Teil des weißen Zettels aus der Karteikiste, packt ihren weißen Zettel mit meinem roten Zettel in eine andere Kiste und händigt mir meinen Pass mit meinem weißen Zettel aus. Und dann durchschreite ich das Tor hinaus in eine von hellen Mittagslicht durchflutete Welt.
Was bleibt sind Fragen. Was, hätte ich mich geirrt und das Buch wäre nicht im Archiv gewesen? Hätte ich dann keinen roten "ZURÜCKGEGEBEN"-Zettel bekommen und wäre auf ewig in den dunklen Hallen der Bibliothek gefangen gewesen? Was, wenn ich zwei Bücher angefragt, dann aber nur einen "ZURÜCKGEGEBEN"-Zettel an der Pforte vorgelegt und außerdem eine falsche Schließfachnummer angegeben hätte? Wäre das das perfekte Verbrechen gewesen? Und diente der ganze Unsinn nur dazu, daß Italiener einem Deutschen mal zeigen können, wie richtige Bürokratie geht, hardcore auf toten Bäumen? Ich werde die Antworten nicht erfahren. Aber ich werde die Fragen auch nicht vergessen, ein kleiner weißer Zettel erinnert mich an sie. Ein Zettel, auf dem mit blauem Kugelschreiber vermerkt ist, daß ich der Besucher 17 an jenem Tag in der Universitätsbibliothek von Bologna war. Und daß ich das Schließfach Nummer 63 hatte.
Solltest Du, oh Leser, eines Tages einmal vor dem Schießfach mit der Nummer 63 am Eingang zur Universitätsbibliothek von Bologna stehen, so halte für einen Augenblick inne und gedenke meiner! Gedenke meiner als eines einfachen Reisenden, der hier ein und wieder aus ging zur Zeit des fünften Mondes des Jahres 2769
ab urbe condita. Gedenke meiner, und mein schützender Segen wird über Deinem Besuch liegen!