Donnerstag, 24. April 2014

Hähnchen nach Separatisten-Art

Nach den Problemen in der Ukraine werden wir so langsam auf eine Ausweitung des angeblichen russischen Machthungers auf die offiziell zu Moldau gehörige Region Transnistrien vorbereitet. Das liest sich dann z.B. so:
"Wladimir Putin schielt auf Transnistrien" (Die Welt, 31.3.2014)
"Putins nächste Beute?" (Focus, 12.4.2014) 
"Der Nato-Oberbefehlshaber Philip Breedlove hält einen Einmarsch Russlands in die Südukraine bis nach Transnistrien für möglich." (NZZ, 24.4.2014) 
"Moldau und Georgien - zwei Staaten im geopolitischen Visier Moskaus" (SpOn, 24.4.2014)
Und anlässlich der plötzlichen Entdeckung des politischen Problems Transnistrien durch die deutschen Medien lohnt es sich, mal einen Blick auf ein Jahrzehnt europäischer Außenpolitik in Transnistrien zu werfen.

Zunächst aber erst einmal ein paar Basisinformationen aus der Wikipedia (das ist schon ok, der Qualitätsjournalismus macht das auch so):
Transnistrien ist ein Landesstreifen zwischen der Ukraine und der Republik Moldau mit einer guten halben Million Einwohner. Offiziell gehört diese Region zu Moldau, tatsächlich war dies aber seit dem Zerfall der Sowjetunion immer nur auf den Landkarten der Fall. Transnistrien besteht seit dem Ende der Sowjetunion auf seine Unabhängigkeit und war nie unter Kontrolle der Regierung von Moldau. Es stellt seit 24 Jahren einen eigenen, allerdings von keinem Land der Welt anerkannten Staat dar, mit eigenen Behörden, Polizei, Währung, etc. Am 17. September 2006 wurde ein Referendum über den Status Transnistriens abgehalten, bei dem sich eine Mehrheit von 97,1% (bei einer Wahlbeteiligung von 79%) für die Unabhängigkeit von Moldau und eine Orientierung nach Russland hin aussprach.

Die Europäische Union wiederum widersetzt sich der Unabhängigkeit Transnistriens und arbeitet stark auf eine Eingliederung Transnistrien in die Republik Moldau hin. Warum sich die Europäische Union darum sorgt, welcher Teil der früheren Sowjetunion Unabhängigkeit erlangen sollte und welcher nicht, lassen wir mal außen vor. Wie stark genau sich die Europäische Union in dieser Frage bei Transnistrien engagiert, das sehen wir uns genauer an.

Und diese Betrachtungen beginnen bei EUBAM, der EU Border Assistance Mission to Moldova and Ukraine. Seit Ende 2005 unterstützt die EU die Grenzüberwachung zwischen der Ukraine und Moldau, etwa durch Entsendung von Zollpersonal und Grenzpolizei, Stichprobenkontrollen, etc. Begründet wurde diese "Unterstützungsmission" mit der Eindämmung von Waffen- und Drogenschmuggel in dieser Region, und im Webauftritt von EUBAM sieht man Bilder von malerischen Landschaften und glücklichen jungen Menschen, die Dank Grenzkontrollen einer sonnigen Zukunft entgegen blicken. Tatsächlich interessiert sich die EU für den illegalen Grenzverkehr ausgerechnet zwischen diesen beiden Nicht-EU-Ländern, weil Transnsitrien gerade entlang der Grenze zwischen der Ukraine und Moldau liegt. Und Transnistrien als kleines Land ist auf den grenzüberschreitenden Handel mit der Ukraine angewiesen. Durch die Eindämmung des "Schmuggels" zwischen Transnistrien und der Ukraine erhofft man sich, Transnistriens Wirtschaft auszuhungern und die Region durch pure Not von ihren Unabhängigkeitsbestrebungen abzubringen. Die übernationale, pro-westliche Denkfabrik International Crisis Group zitiert dazu in der Publikation Moldova's uncertain Future vom August 2006 westliche Diplomaten informell z.B. mit: "EUBAM’s presence on the border means the game is up for Transdniestria." Diese Prophezeiungen haben sich - ganz offenbar - nicht erfüllt. Die EUBAM-Mission ist inzwischen im 9. Jahr, und das Spiel ist für Transnistrien noch immer nicht aus. Das dürfte z.T. daran liegen, daß sich die lange, durch ihre Topographie dem Schmuggel entgegenkommende Grenze in einem ausgesprochen korrupten Umfeld als nicht effektiv überwachbar herausgestellt hat. Allerdings hat EUBAM schnell zu anderen wichtigen und überraschenden Erkenntnissen geführt. Zum Beispiel, daß Waffen- und Drogenschmuggel für Transnistrien, anders als behauptet, keine Rolle gespielt hat - ganz anders als der Schmuggel von tiefgefrorenen Hähnchen. Nein, kein Scherz. Moldova's uncertain Future erklärt:
"EUBAM’s findings suggest that Transdniestria is not the arms and drugs trafficking black hole critics have long contended. It has found no evidence of organised arms smuggling and only minor drug trafficking. What it has discovered is organised smuggling on a massive scale of basic consumer goods and foodstuffs, in particular frozen chicken."
Nun ist es schön, daß die EU aufklären helfen konnte, daß sich Transnistrien nicht durch Waffen- und Drogenhandel finanziert, sondern durch das Verschieben von Tiefkühlhähnchen. Um Druck auf die transnistrische Wirtschaft auszuüben, wurde die Mission zur Grenzüberwachung dennoch immer wieder verlängert.
Das die Störung von Ein- und Ausfuhr in Transnistrien alleine nicht ausreicht, um eine Anbindung an Moldau zu erreichten, bemerkte man bei der Konrad-Adenauer-Stiftung schon 2007.  Thomas Kunze und Henri Bohnet schlugen daher in der KAS-Auslandsinformation 1/07 im Artikel Zwischen Europa und Russland vor:
"Um das Interesse führender Wirtschaftskräfte Transnistriens an einer engeren Zusammenarbeit zu wecken, müssten neben Gewinnaussichten allerdings auch Garantien zum Besitzerhalt der Unternehmen gegeben werden, denn ähnlich wie in anderen post-kommunistischen Staaten verlief der Prozess der Privatisierung chaotisch, intransparent und nicht immer rechtmäßig. Eine Untersuchung der Privatisierungen und eine erneute Umverteilung würde die Stellung etlicher führender Unternehmen bedrohen."
Wir haben also eine europäische Außenpolitik, die sich bemüht, die transnistrische Wirtschaft abzuwürgen. Dazu die Empfehlung, kriminelle Oligarchen mit dem Versprechen von Legalität und Aussichten auf Gewinne dazu zu bewegen, gegen der Willen der Bevölkerung eine Integration Transnisitriens in die Republik Moldau voranzutreiben. Diese Politik offenbart nicht nur ein recht zweifelhaftes Verständnis von Recht und Demokratie, sie scheitert auch auf ganzer Linie: Der wirtschaftliche Druck bindet Transnistrien noch stärker an Russland und dessen wirtschaftliche Unterstützung. Inzwischen bittet Transnistrien offiziell darum, ein Teil Russlands zu werden*.
Und dann erzählen uns deutsche Medien etwas von Putins Machthunger. Ein Glück für die deutschen Außenpolitiker, daß es in deutschen Medien nicht mehr üblich ist, die eigene Politik zu hinterfragen, wenn wenn es nur gegen Putin und Russland geht. Denn wie es Bernd Ulrich in der Zeit formulierte: "es geht um den Konflikt zwischen einem aggressiven Autokraten und den westlichen Demokratien."

Aggressiven westlichen Demokratien, offenbar.

Und wichtig in einer Demokratie ist, daß ihre freien Medien der Bevölkerung darlegen, was die von ihnen gewählten Regierungen eigentlich so tun...

Dienstag, 22. April 2014

Mit Mathematik durchs Leben

Grundschule


Abitur

Studium

Lineare Algebra


Non-Standard Analysis


Numerische Mathematik

Statistik

Assessment-Center


Projektmanagement


Investmentplanung


Steuererklärung


Produktimplementierung


Produktmarketing


Produktperformance

Pensionierung


Letzte Worte


Montag, 14. April 2014

Oops!... He did it again...

Er hat es schon wieder getan! Der Irre von Moskau, er hat es wieder getan! "Inmitten der Ukraine-Krise hat Russland eine Interkontinentalrakete vom Typ RS-24 getestet", meint z.B. der Deutschlandfunk. Bei der Zeit ist man da gleich noch ein bisschen aufgeregter: "Bereits zum zweiten Mal seit der Eskalation der Krim-Krise hat Russland eine Atomrakete getestet." Noch dramatischer verkauft es Focus Online:


Da wird's wohl langsam Zeit, Dosensuppe und Trinkwasser zu horten, was?

Also erst mal stammt das Focus-Zitat von niemandem in Russland, wie der Titel suggeriert, sondern vom "Russland-Experten" Stefan Meister vom European Council on Foreign Relations. Das ist übrigens wiederum nicht zu verwechseln mit der EU-Institution European Council, sondern es handelt sich um eine von der EU unabhängige Denkfabrik, die sich für eine "stärkere" europäische Außen- und Sicherheitspolitik einsetzt. Und dieser Herr Meister meint das "Wir sind zu allem bereit" als Botschaft hinter dem Raketentest.
Und auch wenn's hier schon mal Thema war, graphisch wird's vielleicht ein bisschen übersichtlicher. Wir nehmen einfach mal alle Teststarts russischer Interkontinentalraketen von 2011 bis heute. Und zum Vergleich vielleicht auch noch mal alle der USA, sowie alle Tests des geplanten amerikanischen Raketenabwehrschirmes (Quelle: Wikipedia). Und die tragen wir mal gegen die Zeit auf. Dann sieht das so aus (für eine Vergrößerung anklicken):


Die letzten beiden russischen Tests sehen auf einer längeren Zeitachse gar nicht mehr so bedrohlich aus, was? Das sieht weniger nach einem "Wir sind zu allem bereit" aus, als nach einem "Wir machen weiter als wenn nichts wäre".
Aber Moment! "Ein Raketenstart Anfang März war vom Westen als Provokation aufgefasst worden", sagt sie Zeit! Allerdings sagte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der Vereinigten Staaten etwas anderes, damals im März:
"This was a previously notified and routine test launch of an ICBM," National Security Council spokeswoman Caitlin Hayden said in a statement, adding that "Russia and the United States routinely flight test their ICBMs and SLBMs (submarine-launched ballistic missiles)." (Reuters)
Verdammt, nicht mal eine Provokation! Außer für die deutsche Presse, versteht sich.

(PS: Die Anzahl für den Raketenabwehrschirm zählt sowohl die als Ziel dienende Rakete als auch die Abwehrrakete.)

PPS: Focus Online wurde noch nachträglich hinzugefügt.

Sonntag, 13. April 2014

Optimal in die Katastrophe

"Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen."
Marx und Engels: Kommunistisches Manifest [1]
"Alles weltgeschichtliche Geschehen ist aber nur die Äußerung des Selbsterhaltungstriebes der Rassen im guten oder schlechten Sinne."
Hitler: Mein Kampf [2]

Nähmen wir es mit Hannah Arendt, dann haben sich aus den gedanklichen Strömungen des 19. Jahrhunderts zwei große Ideologien des 20. Jahrhunderts herauskristallisiert [3]. Eine Ideologie ist für sie dabei ein Gedankengebäude, das den Schlüssel zur Geschichte, die Antworten auf die Rätsel des Universums oder die Kenntnis der wahren Gesetze der Welt zu besitzen vorgibt. Die eine dieser beiden Ideologien ist der Nationalsozialismus, der die Weltgeschichte als biologisch motivierten Kampf von "Rassen" zu verstehen glaubt. Die andere ist der Kommunismus, der die Weltgeschichte als ökonomisch motivierter Kampf sozialer Gruppen, der Klassen, erklärt.
Würde diese Betrachtung den Ideologien gerecht werden, wir müssten heute, nach dem Ende von Nationalsozialismus und Kommunismus, in einer unideologischen, freien Welt leben, erklärt uns doch in der Politik niemand mehr die geheimen Mechanismen der Menschheitsgeschichte oder des Universums. Leben wir aber nicht. Und um dies deutlicher zu machen, soll hier ein vergleichender Blick auf den gedanklichen Aufbau des Nationalsozialismus und des Neoliberalismus versucht werden. Und unter diesem Blick liegt beiden das gleiche Denkmuster zugrunde. Dies mag auf den ersten Blick absurd anmuten, der Neoliberalismus mit seiner geradezu obsessiven Betonung von Freiheit, Individualismus und Eigenverantwortung scheint das genaue Gegenteil des Nationalsozialismus zu sein. Die Parallelen liegen in der Tat tiefer in der Struktur der beiden Gedankengebäude versteckt: Beide Gedankengebäude wachsen quasi um einen rationalen Keim herum. Die Logik dieses Keims wird von beiden auf intellektuell unzulässige Weise auf weite, wenn nicht alle Bereiche des menschlichen Lebens übertragen und verabsolutiert. Und aus diesem Vorgehen resultieren aus beiden Gedankengebäuden unvernünftige und zutiefst menschenverachtende Folgerungen.
Bevor dies genauer erläutert werden kann, sind aber wohl erst einmal ein paar Worte darüber angebracht, was unter "Neoliberalismus" hier eigentlich verstanden werden soll.


Vorbemerkung: Neoliberalismus


Es ist mitunter gar nicht so klar, was genau eigentlich gemeint ist, wenn irgendwo das Wort "Neoliberalismus" fällt. Die Konrad-Adenauer-Stiftung etwa beklagt, daß diesem Begriff von linker Seite "bewußt Gewalt angetan" wird:
"Stichworte der Verunglimpfung [des Neoliberalismus] sind: Kapitalismus ohne Herz, Effizienz und wirtschaftlicher Profit statt sozialer Gerechtigkeit, Entmachtung der Politik und Primat des „ungezügelten“ Markts, Minimalstaat, kollektive Regellosigkeit, Ausbeutung. Mit den Absichten und Inhalten, die sich mit dem originären Neoliberalismus verbinden, hat all dies nichts gemein." [4]
Einen Versuch einer positiven Erklärung unternimmt die Bundeszentrale für Politische Bildung:
"Neoliberalismus:
Denkrichtung des Liberalismus, die eine freiheitliche, marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit den entsprechenden Gestaltungsmerkmalen wie privates Eigentum an den Produktionsmitteln, freie Preisbildung, Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit anstrebt, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft jedoch nicht ganz ablehnt, sondern auf ein Minimum beschränken will." [5]
Allein, diese Erklärung erklärt überhaupt nichts. Man frage sich doch nur einmal, wie denn die Gegenposition zum Neoliberalismus aussehen müsste. Es müsste eine Denkrichtung sein, die staatliche Eingriffe nicht auf ein Minimum reduzieren will, mithin unnötige staatliche Eingriffe fordert? Dies mag zwar vom Neoliberalismus aus so gesehen werden, doch wenn man diesen Standpunkt noch nicht eingenommen hat, dann weiß man nach diesem schwachen Erklärversuch auch nicht mehr als vorher. Die entscheidende Frage zur Abgrenzung des Neoliberalismus von anderen Denkrichtungen ist doch, wo genau dieser denn das erwähnte Minimum verortet? Eine Antwort gibt die Konrad-Adenauer-Stifung:
"Zwischen (dringend erforderlicher) Ordnungspolitik und (potentiell schädlicher) Prozesspolitik wird streng unterschieden. Als Rechtsstaat ist der Staat vorrangig für die Sicherung des Ordnungsrahmens zuständig; er wird somit als „starker Staat“ oberhalb der Partikularinteressen in Wirtschaft und Gesellschaft (Rüstow), als Diener der Gesellschaft skizziert. Selbst als Unternehmer aufzutreten, steht ihm nicht zu. Indes können gelegentlich auch prozesspolitische Eingriffe erwünscht und zulässig sein – und zwar dann, wenn sie „marktkonform“ bleiben und im Ergebnis die Funktionsfähigkeit der Märkte fördern; wenn sie die Bildung von Monopolen oder Kartellen verhindern (Wettbewerbspolitik); oder wenn sie dem übergeordneten Ziel des sozialen Ausgleichs soweit dienen, dass die Funktionsfähigkeit des Markts dadurch verbessert, keinesfalls aber geschwächt wird (Sozialpolitik, Umverteilung)." [4]
Ähnlich liest man es auch in einer Publikation der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung:
"Der Eingriffe in den spontanen Ablauf des Wirtschaftsprozesses, der so genannten Prozesspolitik, sollte sich der Staat also weitgehend enthalten. Sonst würde er den Preismechanismus stören und die segensreichen, Wohlstand und Wissen schaffenden Wirkungen der Wettbewerbsordnung unterlaufen." [6]
Wir sollten also nicht allzu daneben liegen, wenn wir im folgenden unter "Neoliberalismus" eine Denkrichtung verstehen, die im Wettbewerb eines Freien Marktes das probate Mittel zur optimalen, "segensreichen" wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung sieht. Die positive Wirkung des Freien Marktes wird dabei so hoch eingeschätzt, daß die Aufgabe des Staates in allen Bereichen auf die Schaffung eines möglichst gut funktionierenden Freien Marktes beschränkt sein sollte.

Bevor wir aber näher auf das Gedankengebäude des Neoliberalismus eingehen, steht erst eine Betrachtung des  Nationalsozialismus an, und zwar insbesondere im Hinblick auf seine Verbindung zum Darwinismus.

Nationalsozialismus und der Darwinismus


Darwinismus bezeichnet hier das evolutionsbiologische Gedankengebäude Darwins, eine Theorie,  die die Entwicklung biologischer Arten in einem Wechselspiel aus Variation und Auslese erklärt. Als Ergebnis dieses Wechselspiels entwickeln sich nach dieser Theorie Arten so, daß eine bessere Anpassung an die Umweltgegebenheiten erreicht wird. In dieser Hinsicht ist der Darwinismus zunächst eine rein wissenschaftliche Erklärung aus dem Bereich der Biologie. Ihrem fundamentalen Wesen nach ist der Darwinismus aber die Theorie eines Optimierungsverfahrens [7]. Die Theorie beschreibt, durch welche Mechanismen ein System (die Beschaffenheit von biologischen Arten) an gegebene Bedingungen abgepasst wird. Und dies, ohne das die zugrundeliegenden, unüberschaubaren und mitunter extrem komplizierten Einzelprozesse verstanden werden müssten. Als Theorie eines Optimierungsverfahrens kann der Darwinismus problemlos aus seinem biologischen Zusammenhang herausgenommen und auf andere Gebiete übertragen werden. Eine Nachahmung der vom Darwinismus beschriebenen Prozesse auf einem Computer in evolutionären Algorithmen erlaubt es beispielsweise, diese Theorie etwa zur Optimierung komplizierter technischer Systeme zu benutzen [8].
Der Darwinismus wurde allerdings sehr schnell nach seinem Entstehen auf intellektuell unredliche Weise auf Situationen übertragen, auf denen seine Anwendung überhaupt nicht statthaft ist. Der wichtigste und zerstörerischste Fall in dieser Hinsicht ist die Anwendung der Darwin'schen Theorie auf die menschliche Gesellschaft und ihre Entwicklung in Form des Sozialdarwinismus. Angesichts der grausamen Auswüchse sozialdarwinistischen Denkens erscheint einem manch ablehnende Äußerung gegenüber der Evolutionstheorie eher wie ein erstaunlich weitsichtiges Verantwortungsgefühl denn als verblendete Verbohrtheit:
"Ich hoffe, diese schreckliche Sache ist falsch. Aber wenn sie stimmt, muß man verhindern, daß sie bekannt wird."
Die Gattin des Bischofs von Worcester
zur Darwin'schen Evolutionstheorie [9]

Der Sozialdarwinismus ist auch ein zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie. Sicherlich lässt sich das nationalsozialistische Gedankengebäude nicht vollständig über den Sozialdarwinismus auf den Darwinismus zurückführen. Auch in seinen rassistischen Elementen gab es Einflüsse, die sich nicht auf den Darwinismus stützten [10]. Doch in seiner Ausgestaltung ist der Nationalsozialismus durchdrungen von einer vulgären Auffassung des Darwinismus, die von einem biologischen Konzept der "Rasse", vom Kampf ums Überleben, einem damit verbundenen Auswahleffekt und die einhergehende Entwicklung zu "höheren" Formen des Menschen ausgeht. Hitler formuliert das Darwinistische Element z.B. so:
"Der Kampf um das tägliche Brot läßt alles Schwache und Kränkliche, weniger Entschlossene unterliegen, während der Kampf der Männchen um das Weibchen nur dem Gesündesten das Zeugungsrecht oder doch die Möglichkeit hierzu gewährt. Immer aber ist der Kampf ein Mittel zur Förderung der Gesundheit und Widerstandskraft der Art und mithin eine Ursache zur Höherentwicklung derselben."
Hitler: Mein Kampf

Kritisch ist nicht nur die Übertragung des Darwinismus auf die menschliche Gesellschaft, sondern auch das Konzept der "Höherentwicklung" durch evolutionäre Prozesse. Der Darwinismus als wissenschaftliche Theorie beschränkt sich lediglich auf die Vorstellung einer verbesserten Anpassung von Arten an äußere Umstände, ohne irgendeine Wertung damit zu verbinden. Der wertende Begriff der "Höherentwicklung" impliziert, daß das Ergebnis des Optimierungsprozesses, den die Darwin'sche Evolution darstellt, selbstverständlich auch das Wünschens- und Erstrebenswerte sei. An dieser Stelle verselbstständigt sich die Theorie der Optimierung: Anstatt eine Vorstellung vom Erstrebenswerten zu entwickeln und danach den Optimierungsprozess zu wählen, wird ein Optimierungsprozess gewählt und das, was dieser Prozess optimiert, als das Erstrebenswerte erklärt.

Das Gedankengebäude des Nationalsozialismus soll hier also aufgefasst werden als von einer in einem bestimmten Bereich sinnvollen Optimierungstheorie ausgehend. Diese Theorie wird auf unsinnige Weise auf weiter greifende Bereiche ausgedehnt. Das Ergebnis der Optimierungstheorie im unzulässigerweise erweiterten Geltungsbereich wird als Ziel verabsolutiert.
Nimmt man einmal die Existenz eines solchen vulgärdarwinistischen Prozesses durch Kampf um Vorherrschaft und damit einhergehende, wünschenswerte "Verbesserung" des Menschen an, so folgt die Ausgestaltung des Nationalsozialismus im einzelnen durch konsequentes Weiterdenken dieses Ansatzes. Volksgemeinschaft und Rasse spielen im Optimierungsverfahren zwangsläufig die zentrale Rolle. Der Wert eines Menschen ergibt sich aus seinem Beitrag im Prozess der Optimierung. Der Optimierung hinderliche Prozesse, seinen es "schlechte" Individuen oder abweichende Meinungen, müssen beseitigt werden, u.s.w.

Neoliberalismus und der Freie Markt



Im Zentrum des neoliberalen Gedankengebäudes steht ebenfalls ein Optimierungsverfahren, nur ist dieses hier nicht der Biologie, sondern der Ökonomie entnommen. Die (freie) Marktwirtschaft stellt, wie der Darwinismus, eine Theorie dar, die, ohne ein genaues Verständnis der überaus komplizierten Einzelprozesse, das Zustandekommen einer optimalen Lösung beschreibt. Das Zusammenspiel von freiem Angebot und Nachfrage und unbeeinflusster Preisbildung ermöglicht in dieser Theorie die Bereitstellung von Produkten, die den gesellschaftlichen Bedürfnissen am ehesten Entsprechen und dabei am günstigsten gehandelt werden. Dieser Optimierungsprozess funktioniert innerhalb gewisser Grenzen und hat dort sicher seine Berechtigung.
Der Neoliberalismus allerdings bestreitet nun die Existenz von Grenzen dieses Optimierungsverfahrens und geht davon aus, daß eine Freie Marktwirtschaft immer das optimale Ergebnis hervorbringt. Daraus ergeben sich erhebliche Folgerungen. Staatliche Eingriffe etwa sind in diesem Gedankengebäude nur insofern erlaubt, als daß sie einen freien marktwirtschaftlichen Wettbewerb sicherstellen sollen. Zudem wird das vermeintlich segensreiche Prinzip der Marktwirtschaft aus rein wirtschaftlichen Anwendungsbereichen hinaus ausgedehnt auf nahezu alle Bereiche des menschlichen Lebens. Sozialer Ausgleich ist in dieser Denkweise nur insofern zulässig, als das er dem Wirken des Marktes förderlich ist, und kein Wert mehr an sich [4]. In der Gesundheitspolitik gehen die Forderungen mitunter so weit, den Zugang zu medizinischer Versorgung an die Zahlungsfähigkeit zu koppeln [11] oder mehr Spenderorgane verfügbar zu machen, indem man einen marktwirtschaftlichen Handel mit Organen einführt [12]. Selbst für das eigene Leben erscheint meist schon eine Optimierung nach ökonomischen Gesichtspunkten selbstverständlich. Persönliche und für viele Menschen natürliche Wünsche wie die nach Sesshaftigkeit und Absicherung werden der marktwirtschaftlichen Forderung nach Mobilität und Flexibilität untergeordnet. Die Ausbildung an Schule und Universität wird auf wirtschaftliche Verwertbarkeit ausgerichtet. Der Lebenslauf ergibt sich kaum mehr aus den Bedürfnissen der Person, die ihn lebt, sondern aus den Bedürfnissen des Marktes, in dem die Person sich selbst zu vermarkten hat.
Die Durchdringung des heutigen Denkens von einer marktwirtschaftliche Logik ist bereits so weit fortgeschritten, daß man den Grad der Ausbreitung nur noch an einzelnen Äußerungen besonderer Intensität zu erahnen vermag. Eine solche Spitze ist etwa Prof. Wolffsohns Erklärung, es könne innerhalb des deutschen Behördenapparates unmöglich Nachsicht gegenüber nationalsozialistischer Gesinnung geben. Denn so etwas wäre ja schädlich für den Erfolg einer vom Export abhängigen deutschen Wirtschaft [13].

Nach der Ausdehnung des marktwirtschaftlichen Optimierungskonzepts über die Grenzen unmittelbarer Wirtschaft hinaus folgt nun auch im Neoliberalismus die Verselbstständigung des Optimierungsziels. Der marktwirtschaftliche Prozess wird nicht mehr korrigiert, wenn er ein gesellschaftliches Ziel nicht zu erreichen vermag, sondern das Ziel wird korrigiert, wenn es dem marktwirtschaftlichen Prinzip widerspricht. Dies zeigt sich meist an Einzelbeispielen, etwa bei der Annahme, der Zugang zur optimalen medizinische Versorgung sollte unabhängig vom Einkommen einer Person sein. Dazu meint z.B. der Liberale Aufbruch innerhalb der FDP:
"Das Prinzip, nach dem Maß der Einkommensfähigkeit Einzahlungen leisten zu müssen und nach dem Maß der gesundheitlichen Bedürfnisse medizinische Leistungen empfangen zu dürfen, widerspricht nicht nur elementaren Grundsätzen der Versicherungsmathematik. Es hat mit dieser Struktur vielmehr auch ein Überbleibsel marxistischer Umverteilungspolitik konserviert." [11]
Mit dieser Verselbstständigung des Optimierungsverfahrens nähert sich der Neoliberalismus auch hinsichtlich der Menschenverachtung an den Nationalsozialismus an. Denn es ist nur konsequent gedacht, wenn beispielsweise Kinderarbeit als akzeptables Phänomen gerechtfertigt wird, sofern der Freie Markt diese fordert:
"Kinderarbeit ist nicht verwerflich, sondern in weniger entwickelten Gesellschaften gar notwendig. Notwendig für den Entwicklungsprozess, der, sobald er freimarktwirtschaftlich durchgeführt wird, in Wohlstand und einem Verschwinden der Kinderarbeit endet." [14]
Rechtfertigt im Nationalsozialismus die biologische Optimierung, hin zu einer zukünftig verbesserten "Rasse", die Ausbeutung des Schwächeren, so rechtfertigt in im Neoliberalismus die ökonomische Optimierung, hin zu einem zukünftigen Wohlstand, die Ausbeutung der Schwächeren. Hier sind die Schwächeren eben die Kinder.

Wie den Nationalsozialismus kann man also auch den Neoliberalismus auffassen als Gedankengebäude, daß von einer in einem gewissen Geltungsbereich sinnvollen Optimierungstheorie ausgeht. Diese Theorie ist nicht wie im Nationalsozialismus der Darwinismus, sondern das Prinzip der Freien Marktwirtschaft. Diese Optimierungstheorie wird auf weitere Geltungsbereiche übertragen. Schließlich wird das Ergebnis des Optimierungprozesses im erweiterten Geltungsbereich als Ziel verabsolutiert.
Als Beispiel für diesen Prozess, dem unzulässigen Übertragen des Marktprinzips auf einen Bereich menschlichen Wirkens und dem verselbstständigen des Ergebnisses der Optimierung, sowie der zerstörerischen Folgen, wollen wir im nächsten Abschnitt die Wissenschaftspolitik genauer ansehen. Von diesem Bereich der Politik sind zwar weniger Menschen unmittelbar betroffen als im Bereich von Sozialpolitik oder Gesundheit, und die Kollision zwischen Marktwirtschaft und Ethik ist weniger drastisch. Aber gerade die Wissenschaftspolitik eignet sich besonders gut, um die logischen Inkonsistenzen des neoliberalen Gedankengebäudes offensichtlich zu machen.

Beispiel: Wissenschaftspolitik


Innerhalb der Wissenschaften ist ein Wettbewerb keineswegs fremd oder unnatürlich. Ein Wettstreit um beste Erklärungen, neue Erkenntnisse und damit verbundene Anerkennung treibt wissenschaftliches Handeln immer mit an. Nur ist diese Form des Wettbewerbs seinem Wesen nach grundverschieden von einem marktwirtschaftlichen Prozess. Denn wie sollte eine marktwirtschaftlich organisierte Wissenschaft (zumindest im Bereich der Grundlagenforschung, nicht in einer unmittelbar anwendungsorientierten Industrieforschung) aussehen? Das zentrale Anliegen wissenschaftlicher Tätigkeit ist der Gewinn neuer Erkenntnisse. Es müsste eine Nachfrage nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen geben, etwa eine Nachfrage nach Einsichten in die Chemie der Titanatmosphäre oder in das Offenbarungsverständnis Bonaventuras. Forscher und Forschungsgruppen als Anbieter offerieren dann Erkenntnisse und die Interessenten entscheiden nach Preis und Leitung, welche Erkenntnisse sie kaufen und welche liegenbleiben? Offensichtlich kann Wissenschaft auf diese Weise nicht funktionieren. Es kann keine freie Nachfrage nach Erkenntnissen geben, denn zum einen liegt es in der Natur von Grundlagenforschung, nicht der unmittelbaren Verwendung zu dienen. Zum anderen kann man schwerlich etwas nachfragen, von dem man, wie bei einer noch nicht vorhandenen Erkenntnis, nicht einmal weiß, daß und wie sie existieren könnte. Es kann auch kein freies Angebot geben, denn es ist kaum möglich, eine Erkenntnis anzubieten, bevor man sie erlangt hat. Hat man sie aber erlangt, so ist das "Geschäft" ja bereits abgeschlossen und das "Produkt" weggegeben.
Diesen Widersprüchen zum trotz wird die Wissenschaft zunehmend einer marktwirtschaftlichen Logik unterworfen. In der Sprache der Wissenschaftspolitik heißt dies:
"Ein zentrales Element zur Sicherung der Qualität wissenschaftlicher Leistungen und der Effizienz des Wissenschaftssystems ist der Wettbewerb um Ressourcen."
Pakt für Forschung und Innovation [15]

Um einen solchen Wettbewerb um Ressourcen zu initiieren, ist es offenbar zunächst notwendig, den Wert einer wissenschaftlichen Erkenntnis einzuschätzen, bevor die Erkenntnis existiert. Dieses unmögliche Unterfangen wird angegangen, indem man die Einschätzung auf das gründet, was bereits vorhanden ist. Da aber auch eine Bewertung der Qualität und Relevanz existierender wissenschaftlicher Leistungen, zumindest auf für Finanzierungsfragen relevante kurze Zeiträume, sehr schwierig ist, wird auf quantifizierbare Größen zurückgegriffen:
"Um diese zu beschreiben, können auch bibliometrische Analysen herangezogen werden, mit denen das Publikations-Output der wissenschaftlichen Einrichtungen quantitativ und der Impact ihrer Forschungsergebnisse mittels Zitationsanalysen qualitativ erläutert wird." [15]
Der Wert zukünftiger Wissenschaft, und damit der Zugang zu Ressourcen, bemisst sich also danach, wie viele wissenschaftliche Publikationen von den betreffenden Wissenschaftlern bisher veröffentlicht wurden, und wie häufig diese von anderen Forschern zitiert wurden.
Was die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen angeht, so ist diese im vergangenen Jahrzehnt tatsächlich erheblich gestiegen. Die wissenschaftliche Online-Datenbank Web of Science etwa zeigt in den letzten zehn Jahren eine Zunahme der Zahl der Publikationen um 44%. Im selben Zeitraum hat sich allerdings die Zahl der Publikationen, die aufgrund von Fehlern, Plagiaten, Nicht-Reproduzierbarkeit, Betrug, etc. zurückgezogen werden mussten, verzehnfacht [16]. Es liegt also nahe anzunehmen, daß, wenn die Anzahl von Publikationen den Zugang zu Ressourcen beeinflusst, von Wissenschaftler die Anzahl der Publikationen gesteigert wird. Und dies eher zu Lasten der wissenschaftlichen Qualität, als daß die Anzahl der Studien die wissenschaftliche Qualität von Forschung, der bisherigen wie der zukünftigen, abbilden würde.
Einen negativen Effekt darf man auch bei der Zitationsanalyse erwarten. Hier geht darum festzustellen, wie häufig wissenschaftliche Veröffentlichungen von anderen Arbeiten zitiert werden. Dies betrifft sowohl einzelne Wissenschaftler, deren Bedeutung für ihr Forschungsfeld auf diese Weise ermittelt werden soll, als auch die Fachjournale, die wissenschaftliche Arbeiten veröffentlichen. Auf der Ebene des einzelnen Wissenschaftlers mögen Manipulationsversuche schwer nachweisbar sein. Es bleibt nur ein persönlicher Eindruck, daß sich vermehrt "Zitierzirkel" bilden, also Gruppen von Wissenschaftlern, die sich verstärkt und bevorzugt wechselseitig zitieren, um sich so gegenseitig beim guten Abschneiden in Zitieranlysen zu helfen. Auf der Ebene von Fachjournalen sind Manipulationsversuche deutlicher zu erkennen. So steigt die Zahl von Journalen, die sich durch übermäßiges Selbstzitieren den Eindruck größerer wissenschaftlicher Bedeutung zu geben versuchen [17]. Ein Weg dazu besteht darin, Druck auf Autoren auszuüben, überflüssige Zitate in ihre Arbeiten aufzunehmen, um mit der eigenen Arbeit für eine Publikation in Frage zu kommen [18]. Sofern also die Häufigkeit von Zitierungen Einfluß auf die Ressourcenverteilung bekommt, beginnen Zitate von Arbeiten weniger als zuvor deren wissenschaftliche Bedeutung abzubilden [19], als vielmehr selbst zum Gegenstand eigennütziger Strategien zu werden.

Auf Seiten des wissenschaftlichen "Angebots" führt die konsequente Anwendung eines unangemessenen Optimierungsverfahrens wie das der Marktwirtschaft zur Einführung schlechter Substitute für die eigentlich zu optimierende Größe. Das Optimierungsverfahren optimiert dann diese Messgrößen, die sich dabei noch weiter von der ursprünglich zu optimierenden Größe entkoppeln und entfernen. Das Optimieren der Messgröße wird zwangsläufig zum reinen Selbstzweck, zum Schaden der eigentlich zu optimierenden Größe, der diffusen wissenschaftlichen Qualität [20].

Probleme treten nicht nur auf der Angebots-, sondern auch auf der "Nachfrageseite" der Wissenschaft auf. Einen "freien" Markt kann es bei einer Finanzierung der Forschung aus öffentlichen Mitteln nicht geben. Jeder Versuch geldgebender Stellen, eine "Nachfrage" nach Forschungsergebnissen zu simulieren, stellt automatisch einen künstlichen, gelenkten Markt dar. Grundsätzlich ist eine gewisse Lenkung der Forschung durch Finanzierung, etwa auf gesellschaftlich relevante Themen und Probleme, durchaus wünschenswert. Nimmt die Steuerung aber zu, so nimmt im gleichen Maße die Möglichkeit ab, Gegenstände unabhängig von unmittelbaren politischen Interessen zu erforschen. Eine übermässige Steuerung der "Nachfrage" nach Forschung schränkt die Freiheit der Wissenschaft ein. Und dadurch, daß die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Erforschung von Gegenständen abhängig von unmittelbaren Verwertungsinteressen immer weiter abnimmt, werden zugleich die Wurzeln für grundsätzlich neue wissenschaftliche Entwicklungen abgeschnitten. Etwas plakativ gesagt, würde es den heutigen Förderungsschwerpunkt "Elektromobilität" gar nicht geben, wenn es zu früheren Zeiten eine Fokussierung auf wirtschaftlich-politische Interessenschwerpunkte gegeben hätte. Denn dann hätten sich Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts auf den Förderungsschwerpunkt "Dampfmaschinen" zu konzentrieren gehabt, anstatt sich mit den Phänomenen der Elektrizität zu experimentieren.
Der Versuch einer marktwirtschaftlich organisierten Optimierung zerstört, was er zu verbessern vorgibt.

Optimierung als Religion


Der grundlegende gedankliche Aufbau eines nationalsozialistischen Weltbildes findet sich also heute auch im Neoliberalismus. Und nur weil die beiden offensichtlich dominanten Ideologien des 20. Jahrhunderts untergegangen sind, sind ihre grundlegenden Denkweisen deshalb nicht mit untergegangen. Sie haben nur in anderen Ausgestaltungen überdauert und stellen weiterhin eine gesellschaftliche Bedrohung dar.
Am Ende bleibt nun noch die unausweichliche Frage, woher denn die Anziehungskraft von Gedankengebäuden der Art des Neoliberalismus oder des Nationalsozialismus herrühren mag. Beim Neoliberalismus mag einem der Gedanke kommen, er diene einigen lediglich als ideologische Rechtfertigung für rücksichtslose Selbstbereicherung. Erschöpfend ist diese Antwort aber wohl nicht, man mag einigen Apologeten des Neoliberalismus durchaus zutrauen, ernsthaft von der Vernunft dieses Gedankengebäude überzeugt zu sein.
Neoliberalismus wie auch Nationalsozialismus haben die Eigenheit, einfache, praktische Antworten auf komplizierte Probleme zu bieten, und dies mag durchaus zu ihrer Attraktivität betragen. Am Ende aber spielt vielleicht ein anderer Aspekt eine wichtige Rolle, nämlich eine gewisse Form der Unpersönlichkeit. Sowohl der Nationalsozialismus wie auch der Neoliberalismus bieten als Antwort auf komplizierte Probleme an, sich einem übergeordnetem, vom einzelnen Menschen unabhängigen Gesetz zu unterwerfen. Im einen Fall ist es ein (vermeintliches) unpersönliches, biologisches Gesetz, im anderen Falle ein ebensolches ökonomisches Gesetz. In beiden Fällen befreit es den Menschen vor einer zu großen persönlichen Verantwortung. Nämlich die, in jedem einzelnen Fall neu entscheiden zu müssen, was zu tun gut ist und was schlecht. In dieser Hinsicht ähneln sich die Gedankengebäude von Nationalsozialismus und Neoliberalismus auf einer fast schon komischen Art der Religion. Diese bietet Gottes Wille als vom einzelnen Menschen unabhängiges Gesetz an, dem man sich in seinen Entscheidungen anzuvertrauen hat, auch wenn dessen Wirkungen im Detail unverständlich bleiben. In der Religion spielt Gottes Gebot die Rolle, die der Nationalsozialismus einem der Biologie entnommenen Gesetz und der Neoliberalismus einem der Ökonomie entnommenen Gesetz zuteilt.
Dieser Aspekt der Abwälzung der Verantwortung vom Einzelnen mag auf den ersten Blick der Idee des Neoliberalismus widersprechen, betont dieser doch unermüdlich die Bedeutung von Freiheit und Eigenverantwortung, wenn er die Wirkungen des Freien Marktes lobt. Doch die Freiheit, die er meint, ist dieselbe Freiheit wie diejenige der Religion. Einmal ist es die Freiheit, sich Gottes Gesetz zu unterwerfen oder unterzugehen, das andere mal ist es die Freiheit, sich dem Gesetz des Marktes zu unterwerfen oder unterzugehen. Es ist nie die ganze Freiheit. Denn Freiheit ist nicht nur die Freiheit des Einzelnen, an einem Spiel teilzunehmen. Sie ist auch die Freiheit einer Gesellschaft, die Regeln des Spiels so festzulegen, wie sie es für angemessen hält.
In Mein Kampf antwortet Hitler auf Einwände gegen die vermeintliche Notwendigkeit eines ständigen Kampfes der Rassen mit einem schlichten
"Selbst wenn dies hart wäre – es ist nun einmal so!"
Und dieses "Es ist nun einmal so!" ist im Grunde, auch wenn es nicht gefallen mag, dasselbe "Es ist nun einmal so!", mit dem heute immer wieder die Notwendigkeit ökonomischer Entscheidungen begründet wird.

Aber nichts ist jemals einfach nun mal so.



Ein paar Anmerkungen und Links:

[1] Beginn des 1. Kapitels (link)

[2] Das Buch ist übrigens gratis und in allen gängigen Formaten im Internet Archive verfügbar. Soviel auch zur ach so schwierigen und viel diskutierten Frage, wie denn damit umzugehen sei, wenn das Urheberrecht an Mein Kampf mit dem kommenden Jahr endet und jeder damit tun kann, was er will...

[3] Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Kapitel 6, 1955 (link zur englischen Ausgabe)

[4] Informationen zum Neoliberalismus auf der Website der Konrad Adenauer Stiftung (link)

[5] Aus dem Eintrag "Neoliberalismus" im Online-Lexikon der Bundeszentrale für Politische Bildung (link)

[6] K. Horn: Welches Wirtschaftssystem passt zur offenen Gesellschaft? Publikation der Friedrich Naumann Stiftung, 2013 (link)

[7] Genau genommen bezeichnet "Optimierung" ein Vorgehen bei unveränderlichen Rahmenbedingungen, d.h. etwa gleichbleibenden Umweltbedingungen. Die Evolutionstheorie bezieht allerdings auch eine Veränderung der Umwelt mit ein. Eine solche Unterscheidung spielt hier aber keine Rolle, die Evolutionstheorie funktioniert sowohl unter konstanten als auch unter veränderlichen Umweltbedingungen.

[8] Der Wikipedia-Artikel "Evolutionärer Algorithmus" bietet eine schöne Übersicht über die Methoden und vielfältigen Einsatzmöglichkeiten evolutionären Optimierens außerhalb der Natur (link).

[9] Dieses Zitat existiert in verschiedenen Varianten und Zuschreibungen und der Ursprung ist nicht eindeutig geklärt. Eine kurze Zusammenfassung seiner Geschichte findet sich hier.

[10] Houston Stewart Chamberlain beispielsweise beeinflusste die nationalsozialistische Ideologie, insbesondere im rassistischen Antisemitismus, tief, ohne daß dieser selbst auf dem Darwinismus aufbauen würde. In seinem rassistischen Werk Die Grundlagen des XIX Jahrhunderts (link) etwa heisst es, in diesem Punkt gar nicht einmal falsch:
"Deswegen lässt sich selbst aus dem konsequentesten und darum flachsten Darwinismus kein haltbarer Begriff des Fortschrittes entwickeln: denn die Anpassung an bestimmte Verhältnisse ist nichts weiter als eine Gleichgewichtserscheinung, und die angebliche Evolution aus einfacheren Lebensformen zu immer komplizierteren kann eben so gut als Verfall wie als Fortschritt aufgefasst werden."
[11] Aus: Mehr Mut zu Recht und Freiheit - Positionspapier des Liberalen Aufbruchs in der FDP, 2012 (link).

[12]
"Wenn jemand existenziell bedroht ist, weil er nicht genug Geld hat, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu finanzieren. So muss er meiner Meinung nach die Möglichkeit haben, durch den Verkauf von Organen und zwar geregelten Verkauf … ähnlich der Börse, dass man sagt, wer ist zugelassen zu dem Handeln. Es muss auch geprüft werden, wer darf das Organ entnehmen. Und dann wird praktisch das Organ versteigert."
Volkswirtschaftler Prof. Dr. Oberender,
zitiert nach einem Bericht auf Deutschlandradio Kultur (link)

[13] M. Wolffsohn: Warum deutsche Ermittler auf dem rechten Auge nicht blind sind, 2013, Focus Online (link).

[14] Das Zitat stammt aus Tomasz Froelichs Text Kinderarbeit: Notwendiges Übel? auf dem libertäten Portal freitum.de (link).

[15] Aus: "Pakt für Forschung und Innovation - Monitoring-Bericht 2013", veröffentlicht von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz des Bundes und der Länder (link).

[16] Entnommen aus R. van Noorden: Science publishing: The trouble with retractions, 2011, in Nature, 478, 26-28 (link).

[17] Das Blog des Wissenschaftsjournals Nature etwa berichtete darüber: link.

[18] Siehe etwa den kurzen Artikel von R. van Noorden: Researchers feel pressure to cite superfluous papers bei Nature News (link).

[19] Tatsächlich gab es beim Zitieren schon immer eine ganze Reihe von Motiven jenseits der wissenschaftlichen Bedeutung des zitierten Werkes: Das zitieren nun mal alle, Schmeichelei gegenüber früheren oder potentiell zukünftigen Arbeitgebern, leichteres Spiel im Begutachtungsverfahren, weil man noch irgendwas brauchte und man eine Arbeit halt bei der Google-Suche oder Wikipedia als erstes gefunden hatte, u.s.w….

[20] Man sollte vielleicht anmerken, daß all die Schwierigkeiten, die mit der "Messung" des Wertes wissenschaftlicher Arbeit einhergehen, auch den Wissenschaftspolitikern und -funktionären bewußt sind. Die Antwort auf die Probleme lautet, die Kenngrößen für eine Evaluierung zu verbessern. Inzwischen ist das Vermessen von Wissenschaft längst selber zu einer Wissenschaft geworden: der Szientometrie.

Dienstag, 8. April 2014

Gute Frage, schlechte Antwort

Gestern, in einem Vorstellungsgespräch für eine Stelle im Call Center (Inbound):

Manager Human Resources: "Was würden Sie denn sagen, haben Sie in Ihrem bisherigen Berufsleben schon erreicht?"

Bewerber: "Wenn ich in meinem bisherigen Berufsleben irgendetwas erreicht hätte, dann würde ich mich doch jetzt nicht bei Ihnen auf eine Stelle im Call Center bewerben."

(Der Bewerber wurde übrigens nicht genommen…)

Montag, 7. April 2014

"Wetten dass…?" ≙ 195 000 Menschenleben

Am Samstag Abend um 22:55 verkündete Markus Lanz das bevorstehende Ende der Sendung "Wetten dass…?". Und dann kam SpOn:

23:05:
00:32:
01:10:

Die Fotostrecke:

10:20:
11:19:
12:49:
15:47:
17:37:
19:51:
11:12:

Das sind also immerhin 11 "Wetten dass…?"-Artikel in gerade einmal 36 Stunden und 17 Minuten seit der Meldung des Aus!
Wenn man bedenkt, daß SpOn es in den ersten 36 Stunden und 17 Minuten nach dem Seebeben und Tsunami im Indischen Ozean an Weihnachten 2004 mit seinen geschätzten 230 000 Toten gerade mal auf 13 Artikel gebracht hat, dann kann man die wahre Bedeutung dieser Sendung so vage erahnen!


Nachtrag: Weiter geht's…!

15:12:
18:14: